Raetia

Aus Theoria Romana
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Lage und Geografie

Raetia war eine römische Provinz, die große Teile des nordwestlichen Alpenraums und des nördlichen Alpenvorlandes umfasste. Nach Osten grenzte sie der Aenus (Inn) zur Nachbarprovinz Noricum ab. Die Südgrenze verlief in etwa auf Höhe der heutigen Alpenpässe Brenner, Reschen-Scheideck-Pass, Stilfser Joch, Maloja, Septimer und Splüngen und schloss westlich auch das Tessin mit ein. Die Westgrenze führte vermutlich im Tal der Reus östlich am Vierwaldstätter See vorbei, passierte den Venetus Lacus (Bodensee) auf seiner Westseite und führte dann weiter bis zur Donau etwa beim heutigen Tuttlingen. Die Nordgrenze war zeitweise die Donau, ansonsten die Kastellkette des Rätischen Limes, die Schwäbische Alb und Nördlinger Ries mit einschloss und von Schwäbisch Gmünd bis nach Regensburg führte.

Die Provinz bestand zu etwa gleichen Teilen aus dem gebirgigen Süden und dem hügeligen Alpenvorland bis zur Donau, an den sich als kleinerer Streifen das ebenfalls leicht hügelige, aber eineingeschränkt zur Besiedlung und Bewirtschaftung taugliche nördliche Donauvorland anschloss.

Vorrömische Geschichte

Das alpine Gebiet der Provinz wurde ursprünglich von den Rätern besiedelt, einem aus zahlreichen Einzelstämmen bestehendem Volk, dessen weitere Herkunft jedoch weitgehend ungeklärt ist. Das Alpenvorland war dagegen das Siedlungsgebiet der Vindelicer, für die mindestens vier verschiedene Stämme bereits aus antiken Quellen nachgewiesen sind und die den Kelten zuzuordnen sind. Antiken Quellen zufolge streiften beide Völker in ihren Siedlungsgebieten frei umher und führten räuberische Überfälle auf ihre Nachbarn oder weitere, insbesondere keltische Stämme im Siedlungsgebiet durch.

Römische Geschichte

Die Eroberung der Siedlungsgebiete der Räter und Vindelicer bildete aus römischer Sicht im Jahr 15 v. Chr. den Abschluss einer ca. 10jährigen Militäroffensive, die dem Schutz Oberitaliens galt. Mit je zwei Legionen drangen Tiberius von Westen und Drusus von Süden her in das Gebiet ein und unterwarfen zahlreiche Stämme. Der Feldzug endete mit der Stationierung einer Legion und weiterer Auxiliartruppen in Augusta Vindelicum (heute Augsburg), einer Siedlungsgründung nahe eines Hauptortes der Vindelicer. Zunächst wurde das eroberte Gebiet als reiner Militärbezirk von dort aus von einem militärischen Befehlhaber kontrolliert, der wechselnde Bezeichnungen trug, beispielsweise als Procurator Caesaris Augusti in Vindalicis et Raetis et in valle Poenina, wie es für Caius Octavius Sagitta für vier Jahre gegen Ende der Regierungszeit von Kaiser Augustus nachgewiesen ist. Zu dieser Zeit stand damit offenbar auch noch das Wallis unter seiner Kontrolle, bis es seit claudischer Zeit Teil der Provinz Alpes Graiae et Poeninae wurde.

Wahrscheinlich schon unter Tiberius oder Caligula, spätestens jedoch unter Claudius wurde Raetia zu einer eigenständigen Provinz, für die zunächst die Donau mit einer Kastellkette gesichert wurde. Ferner wurden wichtige Straßen entlang der Flussgrenze angelegt sowie die via Claudia Augusta, die die Poebene mit der Donau verband. Entgegen älterer Annahmen muss davon ausgegangen werden, dass Augusta Vindelicum zunächst ein reiner Militärstützpunkt blieb, während Cambodunum (heute Kempten) zum ersten Sitz des Statthalters wurde. Erst unter Hadrian wurde Augsburg vermutlich 120 oder 121 n. Chr. als municipium Aelium Augustum Vindelicum städtisch und Hauptstadt der Provinz. Legionen waren zu diesem Zeitpunkt trotz des Status als Grenzprovinz nicht mehr in der Provinz stationiert, so dass sie von einem vom Kaiser ernannten ritterlichen procurator Augusti geführt wurde, der in der Hierarchie der ritterlichen Ämter zu den ducenarii zu zählen ist.

Unter Domitian begann die Eroberung und Sicherung der Gebiete nördlich der Donau durch eine Kastellkette, deren Errichtung als Grenzanlage erst unter Antoninus Pius über 50 Jahre später abgeschlossen war. Gegen Ende des 2. Jh. wurde der limes Raeticus dann noch durch eine geschlossene Steinmauer ergänzt. Die Errichtung diese Mauer dürfte eine Reaktion auf die Einfälle der Markomannen gewesen sein, die die Grenze seit 165 n. Chr. bedrohten und mehrere militärische Operationen nötig machten. Eine weitere Reaktion war etwa 175 n. Chr. die Stationierung einer Legion in der Provinz, die ihr Lager castra Regina (heute Regensburg) gegenüber der Mündung des Regen errichtete. Damit erhielt die Provinz auch eine höheren Status und wurde fortan von eine senatorischen legatus augusti pro praetore geführt.

Weiter in Bedrängnis geriet die Provinz erst wieder zu Beginn des 3. Jh. n. Chr. durch die Alemannen, die Caracalla zunächst 213 erfolgreich zurückschlagen konnte. Ab 233 n. Chr. häuften sich wieder Überfälle und teilweise brutale Raubzüge, bis die Nordgrenze schließlich wieder auf die Donau zurückgenommen und das Grenzheer durch zusätzliche Truppen verstärkt wurde. Vermutlich erst zu Beginn des 4. Jh. n. Chr. wurde die Provinz dann in den gebirgigen Südteil Raetia I mit neuer Hauptstadt Curia (heute Chur) und dem flacheren Raetia II mit der bisherigen Hauptstadt unterteilt. Beide Provincen wurden der dioecesis Italia zugewiesen und von getrennten Statthaltern regiert, während für ihre militärischen Belange eine separater dux Raetia primae et secundae zuständig war. Vermutlich blieben Teile eines römischen Grenzheeres, hauptsächlich bestehend aus eingewanderten Germanen, noch bis zum endgültigen Untergang des römischen Reiches 476 n. Chr. in der Provinz.

Strategische und wirtschaftliche Bedeutung

Von der strategischen Bedeutung her diente die gesamte Eroberung der Provinz ursprünglich primär dem Schutz Italiens als römischem Kernland. Diesen Status als wichtige Grenzprovinz hat Raetia zu keiner Zeit verloren, was auch den erheblichen Aufwand bei der Sicherung des Rätischen Limes erklärt. Gleichzeitig jedoch war die Provinz militärisch weit weniger stark besetzt als ihre Nachbarprovinzen, in denen deutlich stärkere militärische Truppen konzentriert waren. Die Eroberung des Gebietes nördlich der Donau diente insbesondere auch der erheblichen Verkürzung des limes, die sowohl militärische als auch wirtschaftliche Bedeutung hatte.

Zahlreiche villae rusticae belegen die rasche und intensive Nutzung des Alpenvorlandes spätestens seit flavischer Zeit, während sich die Besiedlung in den südlichen Teilen der Provinz lediglich auf die Flusstäler beschränkte. Die Ertragskraft der Provinz war groß genug, um nicht nur das Militär, sondern auch zahlreiche zivile Siedlungen zu versorgen, z.B. Brigantium (heute Bregenz), Cambodunum, Curia, Foetes (heute Füssen) oder Veldidena (heute Innsbruck). Rechtlich blieben diese Siedlungen jedoch alle auf dem Status eines vicus.

Literatur: Tilmann Bechert, Die Provinzen des römischen Reiches, Mainz, 1999