Cubiculum | Manius Flavius Gracchus Minor

  • Dies ist das Reich des Manius Flavius Gracchus Minor, Sohn der Claudia Antonia und des Manius Flavius Gracchus.

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    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • I-IX


    Gleichmäßig hob und senkte die Decke sich über dem Leib des Manius Flavius Gracchus Minor, welcher den süßen Schlaf der Kinder schlief, in fernen Traumreichen Abenteuer erlebte, seltsamen Wesen begegnete oder heroische Taten vollbrachte. Von der Türe her beobachtete Gracchus, gesützt auf einen namenlosen Sklaven, seinen Sohn im fahlen Lichte des Morgens, während Sciurus leise den Raum betrat und den versiegelten Brief auf den Nachttisch des Jungen ablegte, und sein Herz fühlte sich an, als müsse es bersten, als würde es ausdörren, zerbröckeln und zerspringen. Allzu bald kehrte Sciurus zurück, Stunden noch hätte Gracchus verharren wollen, Tage, Jahre im Anblick des unendlich wertvollen Augenblickes, doch der Sklave schloss die Türe, trennte Vater und Sohn auf lange Zeit.



    Mein Sohn,


    nur unzureichend vermag ich dir zu schreiben, wie schwer es mir fällt und wie sehr es mich dauert, dich und deine Mutter in Rom zurück zu lassen, und ich hoffe so sehr, du wirst mir dies verzeihen können, in diesen Augenblicken, wie in Zukunft. Auch in der Ferne werde ich nicht aufhören, an deinem Leben Anteil zu nehmen, gleichsam sollst du wissen, dass ich stets stolz auf dich bin, dass niemanden ich mehr misse denn deine Mutter und dich. Höre auf deine Mutter, denn sie ist die klügste Frau, welche mir je begegnet ist, höre zudem auf deinen Onkel Marcus, denn er ist der untadeligste Mann, welcher mir je begegnet ist, und höre auf deine Tante Epicharis, denn sie ist die gütigste Frau, welche mir je begegnet ist. Strebe stets danach, die römischen Tugenden dir zu verinnerlichen, denn sie sind es, welche uns vervollständigen - sei dabei allerdings nicht zu hart zu dir selbst, muss doch der Mensch flexibel bleiben, um vollkommen zu sein -, und halte dich, was auch immer geschieht, an die Wahrheit, ist doch einzig in ihr Schönheit und Harmonie verborgen.


    Mögen die Götter stets gütig über dich wachen, und dir den Weg weisen, der zu gehen dir bestimmt ist!


    dein Vater

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    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Manius Flavius Manii Filius Gracchus, Sohn eines Senators und Pontifex, ausgestattet mit dem deplorablerweise stark verdünnten Blut von Kaisern und Feldherren, dessen Ahnen bereits in der Republik zum Consulat aufgestiegen waren und dem ein großes Schicksal beschieden war, lag friedlich in seinem Bettchen und schlief tief und fest. Sein Vater sah keine Regung in seinem Gesicht und er reagierte auch nicht, als Sciurius die Tür schloss. Stattdessen spazierte er, wie es auch sein Vater so oft tat, durch das Reich des Morpheus.


    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich* ~~~


    Endlos hoch erschienen die Wände der Villa Flavia Felix, die sich rund um ihn herum auftürmten. All jenes geschäftige Treiben jedoch fehlte, stattdessen herrschte eine geradezu geisterhafte Stille. Er stand im Halbdunkel des Atriums und blickte auf das Impluvium, dessen Inhalt stillstand, als sei es jäh erstarrt. Er ging darauf zu, doch auch seinen Schritten gelang es nicht, jene Mauer der Stille zu durchbrechen. Vorsichtig bückte er sich und streckte den Finger aus. Nahezu unerreichbar schien das Wasser. Doch endlich durchstieß die Fingerkuppe die Oberfläche, worauf sich die Wellen ringförmig verbreiteten und, als hätte diese Störung jedwede Ruhe zerstört, mit einem Male ein leiser Klang wie von jenen Tibiae, die seinen Vater beim Dienst der Götter begleiteten, ertönte, gleich den Wellen im Kreise um seinen Finger anschwellend und versinkend. Doch während die Wellen im schwächer wurden, schwoll die Musik weiter an, mehr und mehr Instrumente setzten ein und ein wahres Konzert erhob sich. Sanft erklang die Kithara, mächtig die Tuba, die Syrinx, quäkend die Hydraulis, von Tympanon und Kymbala begleitet.


    War sie anfangs heiter und fröhlich, sodass er gewillt war, von wir bewegt den Raum tanzend zu durchqueren, verstummte sie ein weiteres Mal, als ein kaltes Gefühl sein Haupt erfasste. Er griff danach, doch auch seine Hand wurde von diesem Gefühl erfasst, als sie in eine zähe Masse eindrang, die sein Haupt umgab und einem unaufhaltsamen Heere gleich seinen Hals hinabrann. Zögernd folgte sein Blick dem angenommenen Quell jenes Tropfens, als die Instrumente erneut erklangen, diesmal jedoch horrend, ein namenloses Grauen prophezeiend.


    Trübe Augen blickten in seine Augen, als er das Haupt in den Nacken legte. Über ihm schwebte jener furchterregende Molosserhund, den er so fürchtete. Sein Leib war tiefschwarz, dunkler als die dunkelste Nacht, die er je verlebt hatte. Doch von größerer Bedrohung war sein Rachen, in den er blickte, aufgerissen wie das Tor des Orcus, umgeben von blankglänzenden, spitzen Zinnen. Unbarmherzig kam jener Schlund näher, er versuchte zu zu entweichen, doch seine Füße waren gelähmt wie die rechte Gesichtshälfte seines Vaters. Er schrie, obschon die immer stärker anschwellende Musik jedes Geräusch, jeden Laut schluckte, als sei er niemals dagewesen.


    Dann, als ein finaler Abschluss, umgab ihn Schwärze, die Musik endete und...

    ~ ~ ~


    ...Manius Minor erwachte schweißgebadet. Angstvoll riss er die Augen auf, glaubte noch den schleimigen Sabber von Serenus' Molosserhund auf seinem Körper zu spüren, erwartete jederzeit den Schmerz, den die Zähne des Tieres in seinen Leib bohren würden. Doch stattdessen umgab ihn nur jene weiche, aufgewühlte Decke, mit der seine Mutter ihn am Abend bedeckt hatte. Nun erst wurde er der Geräusche des Hauses gewahr, realisierte, dass jene grausame Musik verschwunden war im Reich der Träume und die Welt ihn wieder hatte. Vorsichtig blickte er sich um, betrachtete die vertraute Umgebung. Durch die Ritzen der Fensterläden spähte bereits der warme Morgen herein.
    "Mama?"
    artikulierte sein dünnes Stimmchen in die Leere des Zimmers.
    "Maaaaaaaaaamaaaaaaaa!"
    Auf dem kleinen Beistelltisch seines Zimmers lag ein Brief, dem Manius Minor in Anbetracht seiner deplorablen Lage jedoch keine Beachtung schenkte.


    Sim-Off:

    * tributum pro patre

  • Antonia, jene „Mama“, hatte seit jeher das Glück – oder Unglück, je nach Ansichtsweise - sich niemals an ihre Träume zu erinnern. Vermutlich war dieser Umstand tatsächlich ein Segen, bedachte man welche Horrorvisionen sie bereits im Wachzustand heraufzubeschwören imstande war.
    Noch bevor jedoch die Mutter im Nebenzimmer voll Panik aus ihrem Bett empor schiessen und zu ihrem Sohn eilen konnte, war bereits eines von Minors Kindermädchen im Raum. Nicht weiter verwunderlich, ihr Weg war der Kürzere. Denn schließlich hatte stets eine der Sklavinnen vor der Türe von Gracchus’ und Antonias Spross zu wachen. Mit den üblichen Beruhigungsformeln auf den Lippen, die Erwachsene an den Tag legten wenn sie ein Kind beruhigen wollten, war Aikaterina hereingeeilt, setzte sich mit gütigem Lächeln auf den Rand von Minors Bett und wurde jäh unterbrochen, als eine besorgte Mutter mit angstvoller Miene in der Türe erschien. Das übliche perfekt auf die äußeren Umstände abgestimmte Erscheinungsbild der Claudia war, wie zu jener Uhrzeit nicht weiter verwunderlich, am ehesten als derangiert zu bezeichnen. Barfuß, im Nachtgewand und mit gelösten, teils noch zerzausten Haaren, kam sie näher, was dumpfe Patschgeräusche durch das Cubiculum hallen ließ. Mit Adleraugen tastete sich ein geübtes Augenpaar durchs Zimmer, über die Sklavin hinweg und den geliebten Sohn musternd. Keine offenen Wunden, er atmete, er lebte.. so beruhigte sich langsam das trommelnde Herz.
    “Minor!“, ließ sich Antonias Stimme vernehmen, aus der sie die anfängliche Angst noch nicht gänzlich hatte verbannen können. Sie verharrte einen Moment, bedeutete Aikaterina mit einem harrschen Wink den Raum zu verlassen und nahm an ihrer statt auf dem Kinderbett Platz. “Mein Herz.. was ist denn geschehen?“
    Darum bemüht Ruhe und Zuversicht auszustrahlen, strich sie ihrem Sohn einige feuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Jenem kleinen Ebenbild seines Vaters, sowohl im Aussehen, als auch im Charakter – jedenfalls sah Antonia es so. Niemals hätte sie in Gracchus nur eine tadelige Angewohnheit, einen auch noch so geringen Fehler vermutet. Weder in Maior, noch in Minor.


    Zurückgelassen in Antonias Cubiculum lag, bislang ebenso gänzlich unbeachtet wie jenes Exemplar auf dem Tisch Minors, ein Brief. Der gleiche Absender, ein ähnlicher Inhalt. Ein Brief, der der Claudia zweifellos den Boden unter den Füßen hinfort gerissen hätte, der ihr jedes beruhigende Wort genommen und sie in Verzweiflung zurück gelassen hätte. Doch noch hatte sie ihn nicht gelesen..

  • Noch ehe Aikaterina herbeieilte, hatte sich bereits die Augen des kleinen Flavius befeuchtet und in jenem Augenblick, als das Kindermädchen an seiner Seite Platz nahm, um ihn zu trösten, lösten sich einzelne Tropfen und begannen, seine Wangen hinabzurinnen. Noch immer war ihm das Bild jenes gewaltigen Hundes vor Augen und obschon er sich gewahr war, dass er sich nicht im Atrium des Hauses, sondern in seinem Zimmer befand, fürchtete er, in jene grauenerregende Welt zurückgeworfen zu werden, aus der er soeben erwacht war. So vernahm er kaum, mit welchen Floskeln das Mädchen versuchte, seine Angst zu bezähmen. Aufgrund der Tatsache, dass seine Mutter es stets vermieden hatte, ihn in die Hand von Ammen zu geben und er letzendlich doch die meiste Zeit seines Lebens in Anwesenheit der Claudia verbracht hatte, hatten seine zahlreichen Kindermädchen allen Bemühungen zu Trotz niemals einen ähnlichen Stellenwert innerhalb der kindlichen Gefühlswelt erringen können.


    Als der junge Flavius so nun seine Mutter erblickte, ohne deren derangierten Äußerem auch nur den Funken einer Beachtung zu schenken, breitete er hilfesuchend die Arme nach ihr aus, um ihren mütterlichen Schutz zu erbitten, jenes Gefühl der Geborgenheit, die ihm seit seiner Geburt stets zuteil geworden war. Und in der Tat gelang es Antonia, ihren Sohn allein durch den vertrauten Klang ihrer Stimme, die Berührung seines Hauptes zu beruhigen, sodass Minor mit zittriger Stimme vom Ursprung seiner Phobia zu verkünden konnte
    "Der Hund...er...wollte mich...fressen!"
    Immer wieder wurden seine Worte unterbrochen von Schlucken und Schniefen, während er sich bemühte, ein gewisses Maß an Ruhe zu finden: Seine Mutter war hier - wer sollte ihm etwas zufügen?

  • Es brach Antonia das Herz, ihren einzigen Sohn derartig zu sehen. Völlig verängstigt, ja sogar Tränen rannen seine Wangen hinab. Hatten Männer bisweilen Schwierigkeiten damit einer weinenden Frau zuzusehen erging es der Claudia ebenso mit ihrem Kind.
    Tröstend schloss sie ihre Arme um den kleinen Körper, der ihr stets so zerbrechlich erschienen war, dass er um jeden Preis vor den Einflüssen der Welt beschützt werden musste. In monotonen Bewegungen strich eine ihrer Hände über seinen Rücken, während sich das Gefühl der Hilflosigkeit mit Wut mischte. Der Hund. Bei Iuno, sie hatte bereits bei der ersten Begegnung Minors mit einem dieser Kerberosse darauf bestanden, dass diese Biester von ihm ferngehalten wurden. Hatte man auf sie gehört? Nein. Natürlich nicht. Gracchus war der Ansicht gewesen, man könne Minor nicht vor allem und jedem abschirmen, er müsse sehen, dass man sich nicht vor einem Schoßhund fürchten brauche. Schoßhund. Lachhaft. Allein Serenus’ Einfall, ihrem Sohn, ihrem Augapfel, ein ähnliches Vieh zu schenken ließ Antonia das Blut in den Adern gefrieren.
    “Schhh, keine Angst Minimus, es ist alles gut. Es war nur ein Traum. Kein Hund wird dich fressen. Nichts und niemand wird dir etwas zuleide tun.“
    Bei seinem Namensgeber konnte sie hierfür jedoch noch nicht garantieren. Zu lange hatte sie es vor sich hergeschoben, heute würde sie endlich fordern, nein, verlangen, dass die Höllenbrut, die sich Hunde nannte, aus dem Haus verschwinden würden.

  • Eifrig erwiderte der kleine Minor erwiderte die Umarmung seiner Mutter, versuchte seinerseits, seinen Leib an den ihren zu pressen, als wolle er wieder in jenes Stadium vor sechs Lenzen zurückkehren, in dem er mit ihr eine Einheit gebildet hatte. Sein Antlitz vergrub sich in ihrem Nachtgewand, während er der Stimme lauschte, die ihn in einem weitaus höheren Maße beruhigte als die seines Kindermädchens. Doch noch immer tanzten die Bilder jenes Traums durch seinen Geist, selbst wenn das Licht der Geborgenheit immer heller wurde. So verharrte er eine ganze Weile wortlos, nur bisweilen seufzend und schniefend, bis er wieder in der Lage war, sein dünnes Stimmchen zu erheben.


    Langsam blickte er hinauf zum sorgenvollen, doch zugleich tröstenden Gesicht seiner Mutter.
    "Bleibst du hier?"
    Obschon die Bilder des Schreckens seinen Kopf weitestgehend verlassen hatten, fürchtete der kleine Flavius weiterhin deren Rückkehr, was er in seinen Augen nur dadurch verhindern konnte, dass seine mächtige Beschützerin, die ihn nährte und wärmte und ihn tröstete im Schmerz, jenen albtraumhaften Hund durch ihre bloße Anwesenheit abschreckte. In ihrer Anwesenheit würde er es wagen, seine Augen erneut zu schließen ohne fürchten zu müssen, sie nie wieder zu öffnen.

  • Ruhig und gleichmäßig hob und senkte sich Antonias Brustkorb, drückte den Sohn mal von ihrem Herzen fort, mal zog es ihn wieder hin. Sie war immer wieder erstaunt über die Kraft, die Minor innewohnte. Schon als er als Neugeborenes einst ihren Finger umklammert hatte, hatte sie sich hierüber gewundert. Es war gewiss keine übernatürliche Stärke, die dem Kind innewohnte, er übertraf oder unterlag seine Altersgenossen wohl in keiner Hinsicht diesbezüglich. Doch da dies das erste Kind der Claudia war und sie keinerlei Vergleichsmöglichkeiten, wie Kinder von Freundinnen, nutzte, ertappte sie sich bei jeder Gelegenheit dabei, wie sie hierüber lächelte. So auch jetzt. Sich der Tatsache gewahr werdend, dass ihr Sohn von einer panischen Angst beherrscht wurde, verschwand jener selige Gesichtsausdruck jedoch umgehend, wich der bekümmerten Miene der Mutter.
    Der Druck um Antonias Rippen verringerte sich und so löste auch sie ein Stückweit die Umarmung, die Minor vor der grausamen Welt und allen bösen Träumen schützen sollte. Ihre dunklen Augen erfassten die Seinen, die den gleichen warmen Braunton hatten wie die seines Vaters. Eine Erinnerung packte sie und schnürte ihr die Kehle zu bei jenem Vergleich. Jene Stunde, in welcher Minor noch kaum auf der Welt gewesen war und Gracchus ihr offenbart hatte, er glaube nicht der Vater zu sein. Lachhaft im Nachhinein gesehen. Doch jener Nachgeschmack an eine längst vergangene Episode in ihrem Leben war es, die sie eine Weile schweigen ließ, bis langsam, schwerfällig und schleppend nur sich die Worte ihres Sohnes den Weg zu Antonias Bewusstsein freikämpften. Doch sobald eine Schneise geschlagen war, riss ein kurzes Blinzeln die Claudia aus ihren Gedanken, zauberte sie ein aufmunterndes Lächeln in ihr Gesicht und nickte. Wie, wie bei allen Göttern, hätte sie auch mit einem ‚Nein’ antworten können? Wie den Raum verlassen, wenn ihr Kind sie brauchte?
    So fuhr sie erneut durch Minors Haar und wischte anschließend mit einem Daumen notdürftig die Tränenspuren von seiner Wange. “Natürlich bleibe ich hier.“, versprach sie. “Bis du eingeschlafen bist. Und bis du wieder erwachst.“
    Ohnehin würde sie nun keinen Schlaf mehr finden. Nicht wenn sie jederzeit darum fürchten musste, erneut durch einen Schrei ihres Sohnes geweckt zu werden.

  • Erneut entfloh ein Seufzen seinen Lippen, doch diesmal in weitaus beruhigter und beinahe bereits zufrieden als zuvor. Immer schwächer schien das Bild des Monstrums vor dem geistigen Auge des Knaben zu verblassen, verdrängt von der Sonne mütterlicher Liebe. Selbst jene Bitte, die wohl von wenigen ehrbaren Matronae, die ihre Kinder zu gern an Ammen abgaben und kaum mehr auf die Erziehung einwirkten, so freiheraus angenommen worden wäre, schlug sie nicht ab und durchschnitt damit die Bande der Angst, die das kleine Herz in seinem Leib fest umschnürten, als sei es ein Latro, der dem Praetor vorgeführt werden sollte.


    So löste Minor langsam die Umarmung vollends, stützte sich mit den Händen auf seinem Kissen ab und ließ sich dann langsam wieder unter die wärmende Decke gleiten, stets die Augen auf der Silhouette der Mutter gerichtet, welche sich vor dem schwachen Licht des Raumes abzeichnete und sich bereits so fest in den Geist des Knaben eingebrannt hatte, dass er sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch aus einem Stadion Entfernung erkannt hätte. Auch als seine Lider die Augen bedeckten, schwebte sie noch vor ihm und stärkte jenes Vertrauen, das nur ein Kind zu seiner Mutter haben kann und eine derartige Kraft besitzt, dass es auch über lemurische Albträume hinwegtröstete.


    So musste Antonia nicht lange warten, ehe der kleine Minor erneut in Morpheus' Reich hinabglitt, wo ihn weitaus glücklichere Szenerien erwarteten als sabbernde Molosserhunde bei bizarren Klängen.

  • Lächelnd entließ sie ihren Sprössling aus der Umarmung und ließ es sich freilich nicht nehmen, nachdem er sich hingelegt hatte nochmals die Bettdecke über dem kleinen Körper zurechtzurücken. Kurz beugte sich Antonia über Minor, hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn, um letztlich wieder in ihre Sitzposition auf dem Bettrand zurückzukehren.
    Wie ein Wachhund verharrte sie an Ort und Stelle, allzeit bereit aufzuspringen um böse Monster und angsteinflößende Kreaturen aus den Gedanken ihres Sohnes zu vertreiben. Leise summte sie eines jener Wiegenlieder vor sich hin, die wohl schon ihre Großeltern von ihren Ammen vorgesungen bekommen hatten. Erst als sich die Claudia sicher war, dass der junge Flavius eingeschlafen war, verstummte sie wieder, gestattete sie sich eine ein wenig lockerere Haltung. Den Blick vom Sohn abwendend schweifte selbiger durch den düsteren Raum, der durch die langsam emporkriechende Sonne nach und nach zunächst in ein gräuliches und schließlich in ein orangegelbes Licht getaucht wurde. Immer wieder sah sie prüfend zu Minor, fast als fürchtete sie er könne plötzlich aufhören zu atmen. Und tatsächlich, in den ersten beiden Jahren seines Lebens hatte stets ein Sklave über jene Lebensfunktion in der Nacht zu wachen.


    Ein heller Schimmer im Augenwinkel war es schließlich, der Antonia jene Nachricht erblicken ließ, die ihrer beider Leben grundlegend verändern sollte. Ein Brief war es augenscheinlich, mit einem Siegel verschlossen. Falten legten sich auf die claudische Stirn, als sie das Schriftstück in die Hand nahm und das Zeichen im Wachs erkannte. Gracchus' Siegel? Warum schrieb er seinem Sohn denn einen Brief?
    Ihr Sohn hatte keine Geheimnisse vor ihr, dessen war sich Antonia sicher und schon war das Siegel in zwei Teile gebrochen. Sich versichernd, dass das Geräusch Minor nicht geweckt hatte hielt die überbesorgte Mutter kurz inne, entfaltete dann jedoch schnell das Papier und begann zu lesen..


    Es war ihr im Nachhinein unmöglich zu sagen, wie lange sie stocksteif auf den letzten Buchstaben im letzten Wort des Briefes gestarrt hatte, unfähig auch nur einen Finger zu rühren. Das konnte nicht wahr sein. Unmöglich. Nicht jetzt. Nicht zu diesem Zeitpunkt, in welchem alles einfach perfekt war. "Iuno.. ", krächzte sie tonlos.
    Nein. Nein, nein, nein. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Wieso sollte Gracchus einfach so, sang und klanglos verschwinden? Nicht einmal von Angesicht zu Angesicht sich verabschieden? Und warum so plötzlich? Warum stahl er sich aus ihrem Leben und dem seines Sohnes? Endlich regte sie sich, schüttelte den Kopf, als würde jene Geste die bittere Wahrheit ungeschehen machen. Vergessen war für einen Moment der schlafende Sohn, als ein Gedanke durch ihren Kopf zuckte. Was war mit ihr? Hatte Gracchus ihr nicht auch etwas geschrieben? Einige Worte nur, die all das erklären würden und die mitteilen würden, wann er wieder zurück kam?
    Mit wenigen Schritten war sie bei der Tür, wies die davor wartende Sklavin an zu ihrem Cubiculum zu gehen und einen Brief zu suchen. Die Tür wurde wieder geschlossen und Antonia blieb allein mit ihrem trommelnden Herzen und ihrem friedlich schlummernden Sohn zurück. Sie hätte schreien wollen, die Götter anflehen und zugleich verfluchen, doch sie schwieg, brachte keinen Laut über die Lippen. Erst nach viel zu langer Zeit öffnete die Tür sich wieder, streckte die Sklavin eine Nachricht hindurch, mit dem gleichen Zeichen versiegelt wie schon der Brief für Minor.
    Fahrig ergriff die Claudia den Abschiedsgruß, rupfte unwirsch das Siegel ab und las, ein ums andere Mal, immer und immer wieder, bis sie schließlich glauben konnte, was sie las. Er war fort. Fort nach Achaia, um sein Leiden behandeln zu lassen. Hatte er denn erneut einen Anfall gehabt? Warum hatte er nicht.. warum..
    Sie stellte sich im Geiste unzählige Fragen, fand keine Antwort und verzweifelte von Minute zu Minute mehr. Vor allem eine Frage brannte sich in ihren Kopf: Warum hatte er sie und Minor nicht mitgenommen?


    Geräuschvoll landeten beide Briefe auf dem Boden, als Antonia kraftlos beide Arme sinken ließ. Und zum ersten Mal fiel ihr Blick wieder auf Minor. Jenes unschuldige Kind, das nichtsahnend in seinem Bett schlief und gewiss von großen Heldentaten träumte. Wie sollte sie ihm nur erklären, dass sein Vater womöglich monate- oder gar jahrelang fort war?
    Ihre Augen wanderten nach unten, bis hin zu jenem Papier, das das letzte war, was ihr Gemahl, jener Gracchus, dem nichts und niemand etwas hatte anhaben können, für sie zurückgelassen hatte. Schnell bückte sie sich, hob die Schriftstücke auf als handele es sich um einen besonders kostbaren Schatz. Und mit einem Mal wurde ihr klar, warum noch einmal die Götter ihn mit dieser Bürde belastet hatten. Es war zu perfekt gewesen. Ein zu vollkommenes Leben, um es einem Sterblichen zu gönnen. Um es einer Sterblichen zu gönnen. Wie hatte sie sich nur derart in Sicherheit wiegen können? Wie hatte sie nur annehmen können, es würde alles so werden, wie sie es stets gewollt hatte? "Warum nicht ich?", seufzte sie leise, während sie eilig eine einzelne Träne von ihrer Wange wischte. Warum nur wurde ausgerechnet Gracchus so gestraft, ein untadeliger Römer, Vorbild in nur jeder erdenklichen Weise. Der Hoffnung, ihr Gemahl würde in wenigen Wochen wieder genesen gab sie sich nicht hin, zu gut kannte sie ihr Glück und ihr Schicksal. Einige Jahre in Fortunas Gunst mussten nun wohl für den Rest ihres Lebens genügen.
    Hätte sie es gekonnt, sie hätte ihr Dasein mit dem Seinen getauscht, nur um Rom jenen Gracchus zu erhalten. Sie konnte es nicht.. doch sie konnte Rom einen zweiten Gracchus geben..


    "Minor."
    Antonia saß wieder am Rande des Bettes, als sei sie nie aufgestanden, als sei sie nicht unzählige Male im Raum auf und ab gegangen, als sei nicht gerade ihre Welt in Scherben zerfallen. Sie lächelte. Nicht wie zuvor, nicht losgelöst und frei und doch nicht gezwungen. Der Anblick des Sohnes war es, der jenes kleine Wunder zu vollbringen vermochte.
    "Wach auf.", sagte sie, mit einer Hand über das wuschelige Haar Minors streichend.

  • Von all jenen schrecklichen Klarheiten, die seine Mutter trafen wie der Fauststoß eines Athleten bei den Nemeischen Spielen, verspürte der kleine Minor nichts. Tief und friedlich wandelte er durch Morpheus' Reich, ehe seine Mutter ihn mit sanfter Stimme weckte.


    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Vor ihm kroch er im Sande der Arena. Sein Schwert hatte das Tier schwer getroffen und Blut floss aus seiner Flanke, als er triumphierend über ihm stand. Langsam senkte sich jener Staub, der durch den wilden Kampf aufgewirbelt worden war. Nun jedoch war jener an sein Ende gekommen und er war bereit, das hölzerne Schwert aus der Hand des Imperator Caesar Augustus zu empfangen. Lediglich ein einziger Stoß trennte ihn noch von seinem Triumph.
    "Minor."
    Aus dem Rund der Arena erscholl bereits der Jubel der Menge, stets aufs Neue skandierte der Pöbel seinen Namen. Das Meer aus Stimmen hallte in seinen Ohren wider und erhitzte sein Gemüt zu wahrem Übermut. Schon wollte er den Wunsch des Publikums nach der Auslöschung des schwachen Lebens vor ihm erfüllen, da stutzte er.
    "Wach auf."

    ~ ~ ~


    Vorsichtig schlug Minor seine Augen auf und erblickte seine geliebte Mutter. Dennoch verstrichen mehrere Augenschläge, ehe er sich zu orientierten wusste. Soeben noch im Amphitheatrum Flavium, jenem Monument, von dem sein Vater berichtet hatte, dass seine Ahnen es errichtet hatten, fand er sich nun in einem weiteren ihrer Monumente wieder, jedoch war sein Leib von der Rüstung befreit, er blickte nicht weiter durch das Gitter eines Helmes, stattdessen barg eine wärmende Decke seinen kleinen Körper.


    Ein wenig Schwermut durchfuhr ihn, war ihm doch der Triumph in der Arena verwehrt zugunsten eines neuen Tages als kleiner Flavius, dem so vieles verwehrt war aus der Welt der Erwachsenen.
    "Mama?"
    erwiderte er endlich. Claudias Gesicht zeigte Freude, dennoch verunsicherte die Art, auf die die ihr Blick auf ihm ruhte, den kleinen Minor.

  • Andächtig beobachtete Antonia ihren Sohn, während jener sich seinen Weg aus dem Schlaf kämpfte. Ein wenig desorientiert wohl noch, wie jeder Mensch, der aus seinen Träumen gerissen wurde. Glücklicherweise kannte die Claudia den Inhalt jener Träume nicht, hätte sie doch nur gefürchtet Minor würde bei nächster Gelegenheit losziehen, um tatsächlich mit Holzschwert und Schild gegen Spielkameraden zu fechten.
    “Mein Herz.“, erwiderte sie gütig lächelnd und erneut sein Haar durchfahrend. Jenes Haar, dem seines Vaters so ähnlich.. jenes Vaters, der nun weitab in Achaia weilte, der es nicht in Rom ausgehalten hatte, der nicht einmal persönlich sich verabschiedet hatte, weder von seiner Frau, noch von seinem Sohn. Jener Vater, der nun kaum mehr Schatten seiner selbst war, sofern die Krankheit ähnliche Ausmaße angenommen hatte wie beim letzten Mal. War es das, was sie ihrem Jungen erzählen sollte? Dass sein Vater, der große Manius Flavius Gracchus, hilflos das Bett hüten musste, kaum fähig sich zu bewegen, geschweige denn verständlich zu sprechen? Würde er, Minor, nicht irgendwann ihr die Schuld daran geben, so wie sie selbst es bereits tat? Würde er nicht anklagend den Finger heben und auf seine Mutter deuten? Würde die Wahrheit nicht das Bild des perfekten Manius Flavius Gracchus, des allmächtigen und unerschütterlichen Vaters zerstören? Unmöglich konnte sie ihrem Sohn die Wahrheit sagen, nicht, bis er wirklich verstehen würde. Oder bis sein Vater zurückkehrte.
    “Minimus, es gibt eine.. eine großartige Neuigkeit.“
    Es schmerzte. Es schmerzte sie unsäglich das eigene Fleisch und Blut derartig anlügen zu müssen. Und dennoch, es war besser so, dessen war sie sich sicher.
    “Denk nur, dein Vater wurde vom Kaiser persönlich ausgewählt, um eine wichtige Mission zu erfüllen.“
    War es nicht das, was alle Söhne sich erträumten? Der Vater ein wichtiger Mann im Dienste des Kaisers, unterwegs um das Imperium vor Barbaren oder gar dem Untergang zu bewahren?
    “Von nun an ist er.. Friedens-Beauftragter des Imperators, stell dir vor.“
    Ernsthaft bemüht, in ihrer Stimme Stolz und Enthusiasmus mitklingen zu lassen, suchte sie bereits jetzt im Gesicht Minors nach ersten Zweifeln. “Er ist bereits unterwegs in den Osten, deshalb konnte er sich leider nicht mehr von dir verabschieden. Aber er hat mir aufgetragen, dir diesen Brief zu geben.“
    In der Hoffnung, der Junge würde sich nicht weiter am gebrochenen Siegel stören, reichte die Claudia Minor Gracchus‘ Brief.

  • Manius Minor verzog leicht sein Gesicht, als seine Mutter ihm vertraut über den Schopf strich, denn aus einem unerfindlichen Grund bereitete es ihm Unbehagen. Darüber hinaus konnte auch ihr Lächeln nicht über die dunkle Ahnung des Knaben hinwegtäuschen, dass irgendetwas nicht stimmte.


    Und dann kam jene Neuigkeit, deren scheibchenweise Wiedergabe eine geradezu gewaltige Spannung im Geiste des Kleinen aufbaute. Erwartungsvoll harrte er der Auflösung, doch als sie endlich kam, konnte sie ihn doch in keinster Weise zufriedenstellen: Eine Mission des Kaisers? Sein geliebter Vater? Doch warum schien es gerade so, als sei es schwierig, jene Worte hervorzubringen? Und was hatte dieser höchst augenfällige Begriff zu bedeuten? Friedens-Beauftragter. Sein kindlicher Verstand konnte dem jungen Flavier keinerlei Verbindung mit Bekanntem herstellen: Weder mit der Praetur, im Rahmen derer sein Vater wohl böse Menschen bestrafte, so wie es auch als Hausvater gegenüber der Familie seine Aufgabe war, noch dem Vigintivirat, das Onkel Marcus bekleidete - wobei es ihm ohnehin nicht möglich war, dieses Amt in irgendeine Kategorie einzuordnen, die ihm bekannt war. Zumindest jedoch war ihm der Frieden ein Begriff, denn auch wenn er im Streit mit einem anderen Mitglied des Hauses war, stiftete sein Vater des Öfteren Frieden. Vielleicht tat er genau dies: Vielleicht ging er zu Streithähnen und sorgte dafür, dass sie sich wieder vertrugen! Ja, diese Aufgabe konnte er sich für seinen Vater sehr gut vorstellen!


    Auch sein Mienenspiel verriet jene langen Gedankengänge, die sein Verstand zu durchschreiten hatte: Anfangs verängstigt und kritisch, hellte es sich letztendlich auf, obschon ihm die Neuigkeit, dass sein Vater einfach aufgebrochen war, ohne sich zu verabschieden, einen gewissen Dämpfer versetzte. Doch angesichts der Tatsache, dass er mit seinem Vater ohnehin einen eher sporadischen, wenn auch hochgeschätzten Umgang pflegte und er nicht jenem Casus eingedenk war, dass dieser Abschied möglicherweise von längerer Dauer sein würde, als er es sich überhaupt vorstellen konnte, befand er jenen Umstand nur für einen geringen Makel und nahm den Brief entgegen, dessen erbrochenem Siegel er keinerlei Beachtung schenkte.


    Kaum hatte er jedoch jenes Schreiben entrollt, stellte sich ihm eine schier unüberwindliche Barriere in den Weg: Zwar erkannte er diese oder jene Majuskel, etwa das große "M" zu Beginn und konnte sogar das so häufig zu lesende Wort "Rom", doch fehlte ihm die notwendige Kenntnis sämtlicher Buchstaben, um dem Brief seinen vollständigen Inhalt entreißen zu können.
    "Lies vor!"
    befahl er daher seiner Mutter. Nicht, weil er sie durch derartiges Gebaren respektlos behandeln wollte, sondern vielmehr, da er in jenem Haushalt aus unzähligen Sklaven schlicht einer Gewohnheit folgte, die sich bereits in diesen jungen Jahren bei ihm verfestigt hatte.
    Zugleich kam ihm jedoch eine weitere Idee, die ihn eventuell über den Verzicht auf seinen Vater hinwegzutrösten vermochte. Diese Idee verbalisierend schickte er gleich eine Frage hinterher.
    "Bringt Papa mir ein Geschenk mit?"

  • Genau verfolgte Antonia die Gesichtsausdrücke ihres Sohnes, bangte Sekunde um Sekunde, wagte kaum zu atmen, als sie die Augen Minors studierte. Jahrelange Übung war es allein, die sie in jenem Moment davon abhielt, auf der Unterlippe zu kauen, oder gar nervös die Hände zu kneten.
    Er glaubte ihr nicht. Gewiss nicht, er war ein kluger Junge, sofort durchschaute er die Lüge seiner unzulänglichen Mutter. Fast körperlich spürbar manifestierte sich die grenzenlose Enttäuschung, die große Trauer des Kindes, welche der Mutter das Herz zu brechen drohte – einmal mehr.
    Sie blinzelte einige Male irritiert, als Minor ihr ungelesen den Brief wieder entgegen hielt. Zu oft vergaß die Claudia, dass sie keineswegs einen kleinwüchsigen Erwachsenen vor sich hatte, der ihr in seinen Fähigkeiten ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen war. Nein, hier saß ein Kind, das, wie sie nur zu gut wusste, noch nicht alle Buchstaben entziffern konnte, schon gar nicht in einer ihm wenig bekannten Handschrift. Sie lächelte unsicher, nahm mit fahrigen Fingern das Schriftstück entgegen. Noch eine Frage folgte, die die Claudia erstaunt wieder aufsehen ließ. Geschenk? Jene Frage, so unschuldig, so völlig unvermittelt gestellt, entlockte der Mutter ein gelöstes Lachen.
    “Gewiss.“, versicherte Antonia, noch immer ein Schmunzeln im Gesicht. “Ich bin sicher, er wird dir einen ganzen Wagen voller Geschenke mitbringen.“
    Ein kurzes Räuspern folgte – natürlich würde sie ihrem Sohn den Wunsch des Vorlesens erfüllen – ehe sie ansetzte, die erste Zeile wiederzugeben. Wort um Wort folgte und beinahe war Antonia froh, dass ihr Blick auf die schwungvolle Schrift gerichtet sein musste, allein um nicht zu sehen, wie Minors Trauer wuchs. Und letztendlich auch, um zu verbergen, dass erneut ihre Augen feucht wurden.
    Mit dem letzten Wort verstummte schließlich auch die Vorleserin, ließ den Brief sinken und wartete auf die Reaktion des Sohnes.

  • Wie man aus letzterer Frage des Knaben schließen konnte, hatte er letztendlich im Vertrauen in seine Mutter, das weder Grenzen noch Zweifel kannte, deren Darlegung akzeptiert. So lauschte er andächtig den Worten seines Vaters, die wie stets von exquisiter Geschliffenheit waren und in gewohnter Manier mit Hilfe praktischer Erläuterungen zu tugendhaftem Leben anleiteten. Und dennoch konnte Manius Minor aus ihnen Indizien filtrieren, die darauf hindeuteten, dass die Absenz seines Vaters zu unbestimmter Dauer tendierte, was das Pläsier ob der erwarteten Präsente wieder in hohem Maße mäßigte. Vorsichtshalber versuchte er jedoch, seine Hypothese beim Quell seines Wissens über die Dinge der Welt zu überprüfen:
    "Wann kommt Papa wieder?"
    Der junge Flavier wandelte bereits viele Jahre auf der Erde - wenn auch wenige, verglich man sie mit jenen, die ihm noch vorherbestimmt waren - dennoch hatte er nie für längere Zeit der Präsenz seines Vaters entsagen müssen. Vornehmlich in den letzten Tagen war sie ihm bereits verwehrt worden, wobei man ihm den Beweggrund - jenen abscheulichen Anfall, der nur eine Strafe der Unsterblichen sein konnte - vorenthalten hatte, sodass der Knabe in einem umso höheren Maße des Entzückens einer neuen Visite seines Erzeugers entgegenblickte.

  • Kaum war die Frage gestellt, jener unschuldige, neugierige Satz dem Sohn entschlüpft, gefror Antonias Miene auf eine Weise, wie sie in früheren Ehejahren oftmals Gracchus Maior in Angst und Schrecken versetzt hatte. Schnell schüttelte die Claudia jenen Ausdruck jedoch ab, suchte nach einer Antwort, die den Jungen nicht zu sehr enttäuschen und zugleich doch nicht die Unwahrheit sein würde.
    “Bald.“, entgegnete sie daher kryptisch. Einerseits keine Lüge und andererseits war damit so gut wie nichts ausgesagt, war „bald“ doch ein äußerst dehnbarer Begriff. Da die Mutter ihren Sohn jedoch kannte, war sie sich sicher, dass er sich mit jener ungenauen Angabe nicht zufrieden geben würde. “Es kommt darauf an, wie lange seine Aufgabe ihn in Anspruch nehmen wird.“
    Mit Schrecken erinnerte sie sich an die scheinbar elend lange Zeitspanne, die Gracchus nach seinem letzten Anfall benötigt hatte, um wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. Dass ein Rückfall nicht gerade schnellere Rekonvaleszenz versprach schien jedoch bereits klar.

  • Jene Miene, der Manius Minor bereits als Symptom von Bestürzung im Rahmen anderer Sachverhalte begegnet war, stürzte ebenso wie den Vater auch den Filius in tiefe Verunsicherung, wobei die kindliche Unschuld die wahre Lage auf groteske Weise verkehrte, indem nicht etwa der Argwohn des jungen Flavius gegen seine Mutter dadurch geweckt wurde, sondern vielmehr Schuldgefühle in seinem kleinen Leib aufbrandeten in der Annahme, seine unverschämte Frage habe jene Reaktion hervorgerufen. In Anbetracht dieses Faktums senkte er rasch das Haupt und erwiderte in unterwürfigem Ton
    "Ja, Mutter."
    Für mehrere Augenschläge blickte er gen dem reich mosaikverzierten Boden, versunken in einen Strudel aus Gefühlen und Gedanken, ehe er das Haupt erneut hob.
    "Wann lerne ich Lesen?"
    fragte er dann aprupt, denn seine Gedankengänge hatten eine neue Abzweigung im unendlichen Labyrinth seines Geistes genommen und waren so von der Reise des Vaters zu dem väterlichen Brief, zum Willen, dieses Schreiben zu entschlüsseln und schließlich zur Litterarität im Allgemeinen gekommen, derer er nicht mächtig war. Zwar bereitete es ihm große Freude, jene Zeichen der Erwachsenenwelt zu entziffern, die ihm ständig begegneten, doch bisher hatte wohl niemand eine Notwendigkeit erkannt, den jungen Flavius die Buchstaben auf systematische Weise zu lehren.

  • Dass Geschichte sich bisweilen zu wiederholen beliebte, zeigte sich einmal mehr zwischen Antonia und Gracchus. Ein anderer Gracchus zwar, doch floss auch in ihm das flavische Blut.
    Die verschreckte Reaktion des Sohnes missdeutend, zog Antonia die bereits ausgestreckte Hand wieder zurück, nahm an das Kind hatte bereits erkannt, dass seine Mutter ihm etwas verheimlichte. Augenscheinlich war er nur zu scheu, um genauer nachzufragen, war zu gut, um der Mutter offen zu sagen, dass er ihr kein Wort glaubte. Er war seinem Vater so ähnlich, dass es die Claudia schauderte..
    Sein Gedankensprung zerbrach das unangenehme Schweigen, erfasste Antonia jedoch auf dem falschen Fuße, sodass sie lediglich einige Sekunden ratlos in das unschuldige Gesicht Minors blickte, als habe er soeben gefragt, wann Rom untergehen würde. Es waren widerstreitende Gefühle, die in Antonia wüteten, kaum hatte sie die Frage verstanden. Bedeutete sie doch einerseits, dass ihr Sohn ein kluger, wissbegieriger Junge war, andererseits jedoch ebenso, dass er unaufhaltsam älter wurde und früher oder später ihrer Kontrolle entgleiten würde.
    "Wann.. ?", entgegnete sie also zunächst, beide Augenbrauen in die Höhe gezogen. Sie würde einen Lehrer finden müssen.. einen Lehrer, der es wert war, ein Kind aus flavisch-claudischem Hause zu unterrichten. Eine schier unmögliche Aufgabe, wie es schien. Vielleicht einer der bereits vorhandenen Sklaven? Ihr eigener Vilicius, Pallas, war ein äußerst kluger Kopf.. doch war er nur zur Hälfte Grieche und zur andere Hälfte Britannier.. somit schied er von vorneherein aus. Nein, zu gefährlich, vielleicht kam eines Tages doch die barbarische Seite in ihm hervor. Auch die restliche Sklavenschaft missfiel der gestrengen Mutter, so musste wohl ein Fremder engagiert werden..
    "Nun.. wenn du schon Lesen lernen möchtest, werde ich mich nach einem geeigneten Lehrer für dich umsehen."
    Was umgehend die Erkenntnis in Antonia reifen ließ, dass wohl nicht allein für Lesen und Schreiben ein Paedagogus gefunden werden musste. Mathematik, Philosophie, Rhetorik.. all jene Bestandteile des Lebens, die ein zukünftiger Senator - und nichts anderes würde ihr Sohn werden, dies stand bereits fest - beherrschen musste, je früher, desto besser. Und je weiter diese Gedanken sie führten, umso schwermütiger wurde ihr ums Herz. Aufhalten konnte sie den Prozess des erwachsen werdens wohl nicht. Allein das Entgleiten aus ihren Armen ließ sich verhindern.
    "Sobald ich einige Kandidaten gefunden habe, werden wir beide gemeinsam einen aussuchen, ja?"

  • Quale pater, tale filius. Jenem Ausspruch, der noch unzählige Saecula in alle Zungen des Erdkreises in Gebrauch sein würde, entsprach Manius Minor erneut, denn seinerseits fehlinterpretierte er jenen Rückzug des mütterlichen Hand als stillen Tadel. Doch ehe er sich erneut durch Sorge und Scham beschweren konnte, wandelte sich der Inhalt der Unterredung, sodass es nun weiter an Claudia war, zu reagieren. Doch auch jene Reaktion versetzte den kleinen Flavius in Erstaunen, denn einige Herzschläge des Ringens um eine adäquate Entgegnung vergingen, ehe sie sich äußerte, als wäre seine Forderung unvorstellbar.
    Auch die Entgegnung jedoch vermochte es nicht, den Knaben zufrieden zu stellen, lag es doch jenseits seiner Vorstellungskraft, welch großen Aufwand seine Mutter zu investieren gedachte, um eine adäquate Lehrkraft aufbieten zu können. Ihm war durchaus bekannt, dass unter den zahlreichen Sklaven und Bediensteten des Hauses eine achtbare Zahl an Schreibkundigen war, denen er bereits diesen oder jenen Buchstaben, gar ganze Wörter abgerungen hatte. Dass jedoch ausgesprochene Experten zur Belehrung heranwachsender Aristokraten existierten, die über eine wesentlich höhere Kompetenz auf diesem Sektor verfügten, war ihm unvorstellbar.
    "Gut. Wie lang dauert das?"
    akzeptierte er die Antwort endlich, hängte jedoch unverzüglich eine weitere Frage an, was auf seine wachsende Sehnsucht nach geistiger Beanspruchung hindeutete.

  • Die unbändige Neugier, welche sich in allzu vielen Fragen äußerte, war zumindest etwas, das Minor nicht von seinem Vater hatte. Jener hatte sich bisweilen oft in Schweigen gehüllt. Was Antonia nun jedoch lieber war, hätte sie in jenem Moment auch nicht bestimmen können. Früher oder später, so fürchtete sie, würden ihr die Antworten ausgehen und sein Gracchus wäre nicht hier, um die Ehre der Eltern zu retten.
    Auch diesmal würde die Antwort ihren Spross eher enttäuschen, denn ihn zufrieden stellen, woraufhin zweifellos eine weitere Frage folgen würde. “Das weiß ich noch nicht, Minimus.“, erwiderte sie, die eigene Unzulänglichkeit vor dem Sohne eingestehend. “Das ist nicht so einfach, weißt du. Du bist ein Flavius. Zur Hälfte zudem ein Claudius. Das macht dich zu etwas ganz Besonderem.“
    Wovon zweifellos jede Mutter überzeugt war. Die Verbindung zweier ehemaliger Kaisergeschlechter jedoch gab Antonia in diesem Falle recht.
    “Ich kann dir schließlich nicht irgendjemanden von der Straße als Lehrer geben, verstehst du?“

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