Im Norden der Oase Moeris

  • Im Norden der Oase lagen einige kleine Bauerndörfer und Handelsposten, umgeben von Feldern und Sumpfgebieten. Je näher man dem Gewässer kam, desto sumpfiger wurde der Boden. Nachdem die drei Brüder bei einem alten Bauernpaar Halt gemacht hatten und ihre letzten Sesterzen gegen ägyptisches Bier und etwas Kichererbsensuppe eingetauscht hatten, machten sie sich auf den Weg in den Waldstreifen, der die Oase säumte.
    Zu Anfang konnten sie einem halbwegs mit Brettern und Kies befestigten Pfad folgen, der jedoch immer schlammiger wurde und sich in einen schmalen Wanderpfad veränderte, je weiter sie vorankamen.
    Während sie schweigend, aber aufmerksam über den sumpfigen Boden staksten, lauschte Timos den Geräuschen der Umgebung. Vögel zwitscherten, Insekten summten und in den Büschen raschelte es nur allzu oft. Vorsichtig bog er um eine Ecke und blieb ruckartig stehen. Ilías, überrascht durch das plötzliche Halten seines Bruder, rasselte äußerst unelegant in diesen hinein und stieß sich die Nase. Timos drehte sich unbeeindruckt zu ihm um und flüsterte:
    "Wir sind da. Hier ist die Lichtung."
    Er trat auf die mit hohem Gras bewachsene Lichtung hinaus auf einen Schrein zu, der mit einem Baum am Lichtungsrand zu verschmelzen schien.
    Der Altar war Tyche und Aphrodite geweiht und von kleinen Abbildungen der beiden Göttinnen geziert. Mittig auf dem vom Wetter gezeichneten Altar stand eine kleine Schüssel.
    Timos legte seinen Proviant beiseite und nahm einzig das Bier zur Hand, das sie nicht angerührt hatten. Er hockte sich vor den Altar, seine Brüder taten es ihm gleich.
    "Ehrbare Tyche, Tochter des Zeus, Herrin des Schicksals, Retterin der Gestrandeten. Wir möchten dir danken, dass du uns den Weg zurück nach Ägypten gewiesen hast und es uns ermöglichst, Rache zu nehmen an denjenigen, die auf grausame Art und Weise unser Leben beeinflussten, unseren Besitz vernichteten und deine Altäre schändeten. Gib uns Kraft, unseren Weg weiterhin tapfer fortzuführen und unserer Bestimmung zu entsprechen."
    Nun wandte er sich an die kleine Statue der Aphrodite.
    "Reizende Aphrodite, Tochter des Uranos, Göttin der Liebe und Leidenschaft, der Schönheit und der Begierde, die du seit Generationen Schutzgöttin der Bantotakis' bist und über uns gewacht hast, dir sei unser Dank dargebracht. Durch dein Wirken hat Poseidon die Weltmeere gnädig gestimmt, so dass wir das Unwetter überlebten." Anders konnte Timos es sich zumindest nicht vorstellen. Ja, so musste es gewesen sein. Dann richtete er seine Worte an beide Statuen.
    "Ihr großen Göttinnen, die Familie Bantotakis ist euch auf ewig zu Dank verpflichtet. Wir werden euch ehren und über eure Tempel wachen, so gut es uns möglich ist."
    Er verbeugte sich vor dem Altar und stand dann auf, den Lederschlauch mit dem Bier in der Hand. Timos ging zu der kleinen Schüssel hin und öffnete den Lederschlauch, dann goß er langsam das Getränk in die Schale.
    "Ihr Göttinnen, nehmt dieses äußerst bescheidene Opfer an! Es ist nicht viel, doch mehr haben wir nicht."
    Er goß all das Bier in die Schale und trat dann einige Schritte zurück, wo er sich wieder hinkniete und abwartete, ob das Opfer angenommen werden würde.

  • Ilías tat es Timos schweigend gleich und kniete sich ebenfalls hin, gemeinsam warteten sie auf die Antwort der Göttinnen, die sie gerettet hatten. Den Göttern sei dank, sie hatten es geschafft. Nun können sie sich rächen und die Bastarde niederstrecken.

  • Während sie auf der Lichtung knieten, wurde es langsam still im Wald. Die Vögel verstummten, Insekten waren nicht mehr wahrzunehmen, sogar das Plätschern des nahegelegenen Baches wurde ruhiger.
    Als es Mucksmäuschenstill geworden war, nahm Timos plötzlich ein Rascheln in den Wipfeln über ihren Köpfen wahr. Ein Nectariniida (Nektarvogel) flatterte herab und setzte sich auf den Altar. Er schaute sich hektisch um, hüpfte einige Male von links nach rechts und beobachtete dann die drei Brüder. Der Vogel legte den Kopf schief, dann schaute er sich die Schale mit dem Bier an. Erwartungsvoll schaute Timos zum Altar. Der Vogel beugte sich zur Schale herab und trank von dem Bier darin. Dann zwitscherte er einige liebliche Töne, die Timos ganz in ihren Bann zogen. Die Zeit schien stehen geblieben...dann setzte sich der Vogel wieder ruckartig in Bewegung und flog davon. Binnen Sekunden konnte man wieder die Umgebung wahrnehmen und der Zauber war verflogen.
    "Danke ihr Götter..." flüsterte Timos.

  • Ànthimos war tief berührt und blieb erstmal auf seinen Knien.


    Nach einiger Zeit erhob er sich dann doch:
    "Die Götter sind mit uns Brüder. Jetzt werden wir unsere Rache bekommen, da bin ich mir sicher. Lasst uns unser Erbe holen und dann auf nach Memphis!"


    Er sagte das ganz ruhig. Es war eine Feststellung, und das ließ das Ganze noch entschlossener wirken.

  • Timos nickte stumm. Er erhob sich und ging andächtig zum Schrein. Nur er und seine Brüder wussten, dass dieser hohl war und an der Rückseite eine Klappe hatte. Er öffnete den Schrein, dankte den Göttern noch einmal still für dieses wunderbare Versteck und holte ihr Erbe - den einzigen Besitz, der ihnen geblieben war - hervor. Alle Erbstücke waren in wollene Decken eingewickelt, die Timos nun ausrollte.


    Ilías hielt er das Schwert des Polývios Bantotakis, des Familiengründers, hin. Es war aus feinstem Stahl gearbeitet und kostbar verziert worden. Der Knauf stellte das Haupt eines Hengstes dar - ein in Griechenland häufig gesehenes Symbol. Es war ein Xiphos, ein Schwert ähnlich dem rhomäischen Gladius. Allerdings war es nicht so geradlinig geformt, sondern wies eine leicht gewellte Schneide und einen besonders prächtigen Griff aus Elfenbein auf.
    Die Schwertscheide war ebenso reich verziert wie das Schwert selbst. Ein begabter Schmiedekünstler aus Memphis hatte Szenen aus den Titanenkämpfen gestaltet, die die Hülle prächtig aussehen ließen.


    Nachdem sein jüngster Bruder sein Erbe entgegengenommen hatte, trat Timos nun vor Ánthimos und reichte ihm den Bogen aus Ebenholz. Seine Enden waren mit Elfenbein geschmückt und den Bogen selbst zierten Darstellungen der Abenteuer des Herakles. Ein geschickter Freund ihres Vaters hatte sie in das Holz geschnitzt. Die Sehne des Bogens war so hart gespannt, dass nur wenige Männer in der Lage waren, ihn zu spannen. Man benötigte Bärenkräfte um diese Waffe nutzen zu können.


    Als letztes befreite Timos sein eigenes Erbe aus der Decke. Es war der Siegelring seines Vaters und ein Prunkdolch. Der Siegelring bildete den Delfin auf blauem Grund ab, das Wappen der Familie Bantotakis. Er war aus purem Gold. Das Wappen war aus Lapislazuli gearbeitet, einem höchst wertvollen Stein, der äußerst selten und besonders teuer war. Timos entschied sich dagegen, ihn am Finger zu tragen, sondern schnürte ihn sich sicherheitshalber an einer Kordel um den Hals.
    Dann besah er sich den Dolch näher. Er war ebenfalls reich verziert und hatte einen elfenbeinernen Griff sowie eine Klinge aus Edelstahl. In die Klinge eingraviert waren auf einer Seite das Wort tharros (gr. Mut) und auf der anderen der Begriff doxa (gr. Ruhm).


    Zufrieden lächelnd verneigte sich Timos noch einmal vor dem Altar, rollte die Decken ein und verstaute sie in seinem äußerst bescheidenen Gepäck. Voller Tatendrang und mit einem finsteren Grinsen im Gesicht sprach er mit lauter Stimme:
    "Auf Brüder! Lasst uns diese Hundesöhne zur Strecke bringen!"

  • Ànthimos ließ seine Finger über das Holz gleiten. Er fühlte jede Verziehrung, dazu brauchte er sie gar nicht mehr ansehen. Er nahm die aufgerollte Szene, justierte das eine Ende zwischen dem Boden und seinem Fuß und spannte den Bogen. Er war der einzige von seinen Brüdern, der es schaffte den Bogen zu spannen. Dann legte er einen Pfeil auf die Sehne. Körper, Pfeil und Bogen bildeten eine Einheit. Wie gerne hätte er jetzt geschossen! Aber es war zum einen kein geeignetes Ziel da und zum anderen sparte er lieber seine Pfeile, schließlich würde er sie noch brauchen.


    "Lasst uns gehen!"

  • Ilías war ebenfalls hochmotiviert, die Bastarde niederzustrecken. Auch er studierte sein Xiphos gründlich und fühlte den Fluss in seinem Körper, der ihn und das Schwert verband. Er folgte seinen Brüdern mit den Worten.


    "Lasst uns Bastarde schlachten."


    Auch auf seinem Gesicht machte sich ein finsteres Grinsen breit.

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