'Quod sumus, hoc eritis. Fuimos quandoque, quod estis.' – Libri Decimae

  • ~ Was wir sind, werdet ihr sein. Was ihr seid, waren wir einst. ~


    Der Buchladen der Decima ist etwas abseits der Märkte zu finden. Der Geschäftsraum ist nicht klein, aber auch weit davon entfernt, großzügig geschnitten zu sein. Die Räumlichkeiten sind erst neu angemietet worden, und so stehen zwar bereits Regale da, die den Raum in kleine Nischen unterteilen und auch schon einige Papyri, Schriftrollen und Bücher enthielten, jedoch zeugten Lücken in den Fächern, fehlende Dekoration und nicht zuletzt Kisten an der hinteren Wand, dass das Geschäft gerade erst eingerichtet wird.

  • Noch zögernd stand Aurelia Narcissa vor dem Laden, dessen Adresse man ihr empfohlen hatte. „Meinst du, wir sind hier richtig?“, fragte die junge Patrizierin den stämmigen Sklaven hinter sich, den man ihr zu ihrem Schutz mitgeschickt hatte, ohne von der Tür wegzuschauen. Ihr persönlich wäre es viel lieber gewesen allein zu gehen, auch wenn sie die letzten Tage eigentlich gelehrt hatten, dass es in dem Gewimmel, das auf den Märkten herrschte, mehr als ratsam war, einen Leibwächter dabei zu haben. Dennoch fühlte sie sich von dem Mann, der sie und ihre Umgebung ständig im Auge behielt, mehr als einengend, obschon dieser diskret Abstand hielt. „Es ist die richtige Adresse, domina“, entgegnete er mit einer Stimme, als hätte man seine Stimmbänder verkürzt, sodass sie kratzige Töne von sich gaben.
    „Hmm“, machte Narcissa. Die Tür sah in der Tat nicht danach aus, al wäre hier vor ein paar Tagen eine neue Bücherhandlung eröffnet worden. Aber genau nach einer solchen suchte sie im Moment.
    Der Morgen war verstörend gewesen und sie suchte nach Ablenkung, nach neuen Worten. Nach einem merkwürdigen Traum in dem eine schreiende Frau und ein Schatten vorgekommen war, der sich des nachts in das Zimmer ihrer Schwester geschlichen und ihr geheimnisvolle Worte zugewispert hatte, deren Sinn ihr aber vorenthalten worden waren, war sie in den frühen Morgenstunden in das Zimmer Floras geschlichen, um sich an ihre Schwester zu kuscheln, ihre beruhigende Wärme zu spüren und ihren Traum mit ihr zu teilen. Seitdem sie in Rom angekommen waren, suchte sie öfter als sonst die Nähe Floras. Doch diese war nicht aufzufinden gewesen. Geknickt hatte sie daher im hortus zwischen Marcus´ Pflanzen allein ein kurzes Frühstück zu sich genommen, dort, wo die junge Sonne ihr ins Gesicht scheinen konnte und hatte dann für sich beschlossen die ansässigen Bücherhandlungen zu inspizieren. Für gewöhnlich pflegte sie ihre Schriften aus mindestens zwei Stammhandlungen zu beziehen. Dabei hatte sie zwei ins Auge gefasst, den des Marcus Iulius Proximus und jenen, vor dem sie nun stand.
    „Na, versuchen wir es einfach mal...“, sagte sie mehr zu sich, als zu dem Sklaven und schritt voran.
    Ein kleines Glöckchen bimmelte leise, als sie den Laden betrat und der Geruch von Neuem stieg ihr in die Nase. Der Raum war nicht klein, aber auch nicht übermäßig groß. Er schien genau die richtige Größe zu haben, um ein großes Angebot an Büchern aufzunehmen, ohne dass man sich verlor. Die Wände waren frisch renoviert und Regale aufgebaut worden, diese waren aber bisher kaum gefüllt, befand sich der Großteil der Schmuckstücke doch noch sorgfältig in Kisten im hinteren Teil des Ladens verpackt. Eine Frau stand mit einem Mann zusammen in dem Durcheinander und erteilte ihm Anweisungen. Offensichtlich war sie mit seinem Arbeitstempo nicht ganz zufrieden. Narcissa wollte die beiden nicht stören, empfand es aber auch unhöflich einfach nichts zu sagen, auch schon deshalb, weil sie sich nicht sicher war, ob der Laden tatsächlich schon für Kunden zugänglich war. „Salvete!“, grüßte sie in Richtung der beiden, um auf sich aufmerksam zu machen. Wenn sie als Kunde nicht erwünscht war, so würden sie ihr das schon sagen...

  • Seiana wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. Sie schlief schlecht in letzter Zeit, und es war gleichgültig, ob sie versuchte sich mit Wein zu behelfen oder nicht. Wenn sie etwas getrunken hatte, hatte der Schlaf nur eine andere Qualität, keine bessere. Der einzige Unterschied war, dass sie den Abend allein in ihrem Cubiculum besser überstand – dafür der Morgen aber umso furchtbarer war. Sie war nach den ersten paar Aussetzern sehr schnell dazu übergegangen, ihren Weinkonsum zu reduzieren, genug, dass sie sich nicht am nächsten Morgen fühlte, als sei sie von einem Felsen direkt auf den Kopf gestürzt, aber dann konnte sie es auch eigentlich auch ganz lassen, weil es ihr dann nicht half, den Abend besser zu überstehen. Trank sie nur ein oder zwei Becher, fühlte sie sich nur noch melancholischer, noch schlimmer. Und da es sich für eine Frau eigentlich sowieso nicht schickte, dem Wein so sehr zuzusprechen, ließ sie es dann ganz bleiben. Nur manchmal… manchmal gab sie nach. In der Regel dann, wenn sie wusste, dass sie am nächsten Tag keine Termine hatte.


    Elena war davon nicht begeistert, ganz und gar nicht. Aber Elena hatte nicht viel zu melden im Augenblick. Seiana hatte ihr nicht verboten, Katander zu treffen, so weit würde sie niemals gehen – aber der Gedanke, dass ihre Leibsklavin, ihre Freundin, nach wie vor glücklich war mit dem Leibsklaven ihres ehemaligen Verlobten, setzte ihr einfach zu. Dazu kam, dass Elena sie kannte wie sonst niemand, und Seiana konnte ihre Blicke nicht mehr sehen, ihren Tonfall nicht mehr hören. Sie brauchte kein Mitleid, sie wollte kein Mitleid. Und Elena konnte nicht anders, als mit ihr mitzuleiden. Für sie zu leiden, fast schon, ließ Seiana doch einfach nicht zu, dass zu viel an die Oberfläche drang. Sie konnte es nicht zulassen. Elena hingegen wollte gerade das von ihr, versuchte gerade das zu erreichen, dass sie es zuließ. Das alles waren Gründe, warum Seiana derzeit auf Abstand ging zu ihr. Und so kam es, dass Elena sich dieser Tage ungewöhnlich viel Freizeit erfreuen durfte, während Seiana sich vorzugsweise mit Sklaven umgab, die sie kaum kannten und so nicht Gefahr lief, angesprochen zu werden auf etwas, auf das sie nicht angesprochen werden wollte. Und, natürlich: Seiana stürzte sich in ihre Arbeit. Sie hatte bereits vor einiger Zeit beschlossen gehabt, ihren Buchladen nun von Alexandria nach Rom zu verlagern, und nun war sie es endlich angegangen. Die Götter waren auf ihrer Seite gewesen, wenigstens diese eine Mal, da sie in genau dieser Phase die Zusage für Räumlichkeiten bekommen hatte, die von allen besichtigten ihr die liebsten gewesen waren. Nah genug bei den Märkten, um Laufkundschaft zu bekommen, aber nicht so nah, dass die Räume zu teuer wurden. Und jetzt war sie hier, mit einem Sklaven, der nach ihren Anweisungen agierte und alles herrichtete, während sie in der Mitte stand und versuchte, sich vorzustellen, wie dieser Raum werden könnte. Sie wedelte mit einer Hand und dirigierte den Sklaven, der gerade nach einer Vase gefasst hatte, zu einer anderen Kiste. Die Dekoration konnte warten, das wichtigste waren nun erst mal die Bücher.


    Dann hörte sie das kleine Glöckchen, das über der Tür angebracht war. Etwas verblüfft, weil sie nicht damit gerechnet hatte, drehte sie sich um und erblickte eine Besucherin. „Salve…“, erwiderte sie, zunächst etwas zurückhaltend, während sie dennoch höflich lächelte. Eigentlich hatte ihr Laden noch nicht geöffnet. Eigentlich hätte der Sklave die Tür abschließen sollen. Eigentlich. Faktisch war das aber ihre erste Besucherin. Ihre erste Kundin, hier in Rom – vielleicht. Seiana beschloss zu ignorieren, dass das Geschäft noch nicht offiziell geöffnet hatte, und dass es hier alles andere als so aussah, als wäre es ein funktionierender Laden, was er aber eigentlich war. Jemand hatte jetzt schon hierher gefunden. Und sie würde sie sicher nicht vertreiben. Den Sklaven allerdings würde sie wieder in der Casa Decima abliefern. Wenn er sich gut gemacht hätte, hätte sie sich überlegt zu fragen, ob sie ihn vielleicht haben könnte für die Arbeit hier, aber so würde sie sich eben nach jemand anderem umsehen. Mit einem Lächeln näherte sie sich also ihrer Besucherin. „Verzeih bitte, wie es hier aussieht – ich habe mein Geschäft erst vor kurzem von Alexandria hierher verlegt, daher ist noch alles im Aufbau. Mein Name ist Decima Seiana. Wie kann ich dir behilflich sein?“

  • Als die Decima antwortete, fühlte sie sich auf merkwürdige Art und Weise dabei ertappt, wie sie den Raum abermals mit ihrem kritischen Blick durchquert hatte. Bei den Worten nun sah sie jedoch zurück zu der Inhaberin. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Das macht mir nichts...ganz im Gegenteil“, Sie machte nun ein paar Schritte weiter in den Raum. Es waren ganz schön viele Kisten. Die Buchhandlung in Alexandria musste ein beachtliche Größe gehabt haben. „eine Buchhandlung muss gemütlich sein und das schafft man nicht dadurch, dass alles perfekt akkurat ist“, meinte Narcissa freundlich und überging dabei einfach einmal die Tatsache, dass es hier wirklich noch einiges zu tun gab. Aber die Räumlichkeit schien ein gewisses Potential zu besitzen. „Mein Name ist Aurelia Narcissa“, stellte auch sie sich höflich vor.


    Alexandria. Sie hatte schon das eine oder andere von der Stadt gehört und gelesen. Hauptsächlich im Zusammenhang mit der großen Bibliothek und einem riesigen Leuchtturm, der den Schiffen des Nachtens den Weg wies. Alexandria, die Stadt des Wissens. Narcissa spürte, wie sich ihre Neugierde regte. Ihre Wege hatten sie bisher noch nie aus der Provinz Italia hinausgeführt, kaum war sie über die Stadtgrenzen Terentums herausgekommen. Alles was sie über die anderen Provinzen wusste, hatte sich die junge Aurelia entweder durch regelrechtes Durchlöchern mit Fragen und durch lesen angeeignet. Eine sehr theoretische Welt, in der sie sich bewegte. Vor ihr schien nun tatsächlich jemand zu stehen, der weit herum gekommen war – oder zumindest weiter als sie selbst. Es stimmte sie etwas wehmütig. Zu gern würde sie sich einfach auf den Rücken ihrer Epicharis schwingen, den Wind im Gesicht spüren und die Welt selbst erkunden – aber ihre Familie wäre davon ganz gewiss nicht begeistert. Hoffentlich waren diese Gedanken nicht auf ihren Zügen zu lesen, ging es ihr im nächsten Moment durch den Kopf. Decima Seiana vor ihr wartete nach wie vor freundlich auf eine Antwort. Vielleicht würde sich später noch die Gelegenheit ergeben ein paar Fragen zu stellen.


    „Ich frage mich, ob du vielleicht Abschriften aus der Bibliothek von Alexandria da hast...“

  • Seiana lächelte der jungen Frau zu. „Nun, ich habe vor, dass es gemütlich wird. Das hier allerdings…“ Sie machte eine leichte Handbewegung, die den Verkaufsraum umschloss, „… ist weder akkurat noch gemütlich. Und es sollte wenigstens eines von beiden sein.“ Eher akkurat als gemütlich… auch wenn Seiana zuvor noch das Gegenteil gesagt hatte. Natürlich sollte die Atmosphäre zum Lesen einladen, das wusste sie schon, weil das die Menschen eher dazu animieren würde, dann auch tatsächlich etwas zu kaufen – was der Sinn eines Ladens war –, aber sie selbst fand, dass eine gewisse Ordentlichkeit einfach auch gegeben sein sollte.


    Ihre Worte, dass sie den Laden aus Alexandria hierher verlegte, schienen irgendetwas in der Jüngeren auszulösen. Seiana meinte Neugier aufblitzen zu sehen, und noch etwas anderes, und für einen Augenblick fragte sie sich, wie alt die andere wohl war. Und wo die Zeit geblieben war… Nicht dass sie selbst furchtbar alt wäre, aber sie war doch älter, und wo war sie heute? Nicht dort, wo sie hätte sein sollen. Sie verdrängte die Gedanken, die sie ohnehin hinter ihrer üblichen, höflichen Maske verborgen hatte. „Doch, einige Abschriften habe ich durchaus.“ Sie wandte sich den Kisten zu, suchte kurz nach der richtigen und bedeutete dann dem Sklaven mit einem Wink, sie zu öffnen und den Inhalt auf einem Tisch zu platzieren, so dass man ihn gut besichtigen konnte. Während er sich dem widmete, wandte sie sich wieder an ihren Gast. „Aurelia Narcissa, ja? Bist du verwandt mit Aurelius Corvinus?“

  • "Gut Ding, will gut Weile haben - heißt es nicht so?", meinte Narcissa aufmunternd und fügte ermutigend hinzu: "Ich glaube diese Räumlichkeiten waren eine gute Wahl...Du wirst viel darauß machen können." Auch die Lage des Ladens schien ihr günstig zu sein. Noch nicht allzu weit entfernt des nächstgrößeren Marktes, aber doch etwas abseits des größten Trubels.


    Sichtlich erfreut trat Narcissa näher an jenen Tisch heran, auf welchen der Sklave gerade im Begriff war, die ersten Schriften herauszulegen. Schon jetzt begannen ihre Fingerspitzen zu kribbeln, waren neugierig darauf, den Papyrus zu streifen. Es war immer dasselbe. Dieselbe Unruhe, dieselbe spannungsvolle Erwartung. Ein Fluch! Für gewöhnlich verabschiedete sich Narcissas Vernunft sobald es darum ging neue Bücher zu erwerben. Es ging nicht einmal darum, sie unbedingt zu lesen - sie besaß zahlreiche Schriftstücke, die sie noch nicht gelesen hatte -, es ging darum sie zu besitzen, sie ihr eigen zu nennen. Sammelten andere Frauen Unmengen von Sandalen, Schmuck oder Kleider, so sammelte sie Schriftrollen. Sie liebte deren Geruch, das raue Gefühl unter ihren Fingern, wenn sie darüber strich - Vielleicht hätte sie doch Lysandra mitnehmen sollen. Die hätte bestimmt auf sie aufgepasst. Oder besser gesagt, auf ihren Geldbeutel. Eine Frage riss sie aus ihren Gedanken. Sie kannte Marcus? Natürlich kannte sie ihn! Immerhin war er Pontifex und Auctor der Acta. Der Mann war gut und gern als "bunter Hund" zu beschreiben! "Ja, wir sind verwandt. Aber nicht direkt. Unsere Großväter waren Brüder" Sie dachte kurz nach, bevor sie die Verwandschaftsverhältnisse lächelnd noch näher benannte: "Also ist er eine Art Großonkel von mir...", Eine große Familie. Narcissa war dann aber doch neugierig: "Kennt ihr euch?"

  • Gut Ding will Weile haben. Die Worte stimmten Seiana irgendwie melancholisch. Dennoch lächelte sie ein weiteres Mal. „Ja, das sind sie in der Tat. Die Lage könnte kaum besser sein, jedenfalls für den Geschäftsumfang, den ich anvisiere.“ Seiana hatte viel Zeit darauf verwendet, die Märkte und die Bereiche darum herum zu analysieren, sich anzusehen, wo die Konkurrenz ihre Geschäfte hatte, welcher Art diese Konkurrenz überhaupt war, wo die meisten Besucherströme waren und wohin sich selten Laufkundschaft verlief. Erst danach, als sie die Gegenden festgelegt hatte, die überhaupt für sie in Frage kamen, hatte sie sich auf die Suche nach Räumlichkeiten gemacht. Ja, diese hier waren in der Tat eine gute Wahl gewesen, und Seiana hatte innerlich den Göttern dafür gedankt, dass sie den Zuschlag bekommen hatte für diese hier.


    Mit einem Lächeln – das diesmal ein wenig ehrlicher war, auch wenn das nicht wirklich einen sichtbaren Unterschied machte in ihrer Miene, eher einen minimal spürbaren in ihrer Ausstrahlung – sah sie dabei zu, wie die Aurelia nun die Schriften durchstöberte, die der Sklave nach und nach auf den Tisch legte. In dem Verhalten der Jüngeren erkannte Seiana sich selbst wieder, auch wenn sie diese Begeisterung, diese Faszination schon lange nicht mehr so offen zeigte. Einen Augenblick lang verharrte ihr Blick auf den Schriftrollen, dann wanderte er wieder hoch zum Gesicht der Aurelia, als diese von ihrem Verwandtschaftsverhältnis zu Aurelius Corvinus sprach. „Ja, tun wir – ich arbeite bei der Acta, und darüber hinaus ist er mein Patron. Richte ihm doch bitte Grüße von mir aus, wenn du ihn siehst.“

  • Wie wäre es wohl, wenn Narcissa selbst einen Buchladen eröffnete? Einen mit Regalen, die bis an die Decke reichten. Über und über beladen mit Schriftrollen, die wie lange, bleiche Finger herausstachen. Und sie mitten drin. Narcissa ertappte sich dabei, wie ihr Blick verträumt über die Regale wanderte und zuckte kaum merklich zusammen. Diese Gedanken waren absolut abwegig. Lächerliche Wunschvorstellungen. Besser sie machte sich nichts vor. Ihre Verwandten wären davon gewiss nicht sonderlich begeistert. Ein schweres Seufzen brach über Narcissas Lippen...


    Narcissa ahnte nichts davon, was in der Älteren vor sich ging. Sie bemerkte auch nicht, wie due Decima sie beobachte. Viel zu sehr war sie fasziniert von den Schriften, die vor ihr auslagen und scheinbar ihren Namen riefen.
    "Tatsächlich?", Überrascht hob sie die Augenbrauen. Es war eigentlich nicht der Umstand, dass sie in dieser großen Stadt auf jemanden traf, der Marcus seinen Patron nannte, sondern vielmehr, dass eine Frau bei der Acta arbeitete. Sonst hörte man doch immer, dass Schreiben Männersache war. "Du arbeitest bei der Acta?" Ihre Überraschung entlud sich in spontaner Begeisterung: "Das ist ja großartig!" Sie strahlte über das ganze Gesicht. "Wie ist es dort zu arbeiten?"

  • Seiana ahnte nichts von Narcissas Träumen, selbst ein Buchgeschäft zu eröffnen – sonst hätte sie ihr sagen können, dass es völlig gleichgültig war, was ihre Verwandten darüber dachten, weil es Patriziern schlicht verboten war, außer landwirtschaftlichen noch andere Betriebe zu führen. Allerdings hörte sie das schwere Seufzen, das die Aurelia von sich gab, und etwas verwundert sah sie sie kurz an – ohne allerdings weiter darauf einzugehen. Was auch immer der Aurelia auf dem Herzen lag gerade, es ging sie ja nichts an, und sollte tatsächlich etwas anderes der Fall sein, würde sie schon selbst mit der Sprache herausrücken.


    Als Seiana dann erzählte, wie sie dem Verwandten von Narcissa stand, schien diese deutlich überrascht zu sein – allerdings nicht, wie sie bald feststellte, weil Corvinus ihr Patron war, sondern weil sie bei der Acta arbeitete. „Ja, tue ich“, antwortete sie mit einem Lächeln. „Nun, es… macht Spaß. Mir jedenfalls. In letzter Zeit komme ich nur noch selten dazu, wirklich Artikel zu schreiben, was schade ist, weil das der Grund war warum ich angefangen habe…“ Sie hob leicht eine Schulter an. „Aber ich arbeite inzwischen zusätzlich als Lectrix, was einige Zeit in Anspruch nimmt, und ich habe im Augenblick auch noch einige andere Dinge um die Ohren. Ich hoffe das ändert sich bald wieder. Was ist mit dir, interessiert dich das Schreiben? Möchtest du auch bei der Acta anfangen?“

  • Bücher und Schreiben. Schon immer hatte sich die junge Aurelia für derlei Dinge interessiert. In den Schriftrollen eröffneten sich ganze Welten. Sie konnte Schlachten miterleben, die stattfanden, als sie noch nicht einmal gedacht gewesen war. Schreiber waren es, die ihr diese Möglichkeit erst eröffneten, weshalb sie Autoren für gewöhnlich mit einem gewissen Respekt begegnete, egal was letztendlich für eine Person dahinter steckte. Ob Narcissa diese Person mochte oder nicht. Einmal davon abgesehen, dass sie die Ältere sympathisch fand, war es auch so etwas wie Ehrfurcht, das in der jungen Aurelia geweckt wurde. Für die Decima indessen schien es das natürlichste der Welt zu sein aktiv zu sein, zu arbeiten wonach ihr der Sinn stand. Sie hatte aber wohl auch noch nie die Erfahrung jener goldenen Leine gemacht, die ihr unsichtbar um den Hals lag und sich jedes Mal zuzog, wenn sie „mehr“ wollte, als ihr die patrizischen Gepflogenheiten zustanden. Betraf das nun eigene Geschäfte zu machen, was ihr ja schon von rechtlicher Seit versagt war, oder sich auch nur frei und allein durch die Stadt zu bewegen. Der Custodes stand immer noch wachend drei Schritte hinter ihr, als drohe ihr hier in diesem Buchladen eine Gefahr. Lächerlich.
    Aufmerksam hing sie an Seianas Lippen. Diese Frau erlebte. „Ob mich das Schreiben interessiert?“, wiederholte sie lächelnd mit gehobenen Brauen. „Ja, sehr! Ich schreibe...privat sehr viel...“, Da konnte sie immerhin schreiben was sie wollte, wie sie es wollte, sich anderes erträumen. „Es würde mich sehr reizen bei der Acta anzufangen...Ich weiß nur nicht...“ Sie überlegte, wie sie den Satz am besten zu Ende bringen konnte....“ob meine Verwandten sehr davon angetan wären, würde ich mich so öffentlich mit Politik beschäftigen.“ Sie erinnerte sich noch sehr düster an jenes erste Gespräch mit Marcus. Sie hatte sich nach den politischen Geschehnissen in der ewigen Stadt erkundigt und er hatte ihr Information zu gesellschaftlichen Tratschthemen gegeben – nein, noch nicht einmal das. Er hatte sie an Prisca verwiesen. Als wäre es nicht Sache einer Frau sich auch nur im Geringsten für Politik zu interessieren!


    „Ich kann mir vorstellen, dass du vor allem auch mit diesem Umzug jetzt einiges zu tun hast“, erwiderte sie dann verständnisvoll. „Warum verlegst du den Laden eigentlich von Alexandria nach Rom?“

  • Je faszinierter die Aurelia schien, desto jünger wirkte sie irgendwie auf Seiana – und desto mehr berührte sie sie. Sie schien irgendwie… fasziniert zu sein von ihr, von dem, was sie tat, und das war etwas, was Seiana neu war. Wenn man nach dem urteilte, was Tradition einer Frau zubilligte, entsprach sie nicht wirklich dem Idealbild. So sehr Seiana sich auch bemühte in anderen Bereichen, was ihre Tätigkeiten anging, legte sie zu viel Wert auf Selbständigkeit und zu wenig auf Häuslichkeit, und das wusste sie. Aber das war etwas, was sie auch nicht mehr aufgeben wollte. Sie konnte nur versuchen, es wettzumachen… und allzu schlimm war es auch nicht, fand sie, wenn eine Frau bewies, dass sie fähig war eigenständig zu sein.


    Seiana lächelte, als Narcissa zugab, dass sie bereits jetzt viel schrieb. „Du musst dich ja nicht unbedingt mit politischen Themen beschäftigen. Vorausgesetzt, deine Familie sieht das tatsächlich nicht gern. Es gibt eine Menge andere Bereiche, die in der Acta veröffentlicht werden. Und darüber hinaus werden die Autoren nicht genannt, wenn sie das nicht wollen, insofern kann auch öffentlich kein negatives Licht auf dich oder deine Familie direkt fallen.“ Sie musterte die Aurelia einen Augenblick, bevor sie erneut lächelte. „Außerdem geht jeder Artikel über meinen Tisch und den des Auctors. Sollte etwas darin stehen, was kritisch werden könnte für den Autor oder die Acta, können wir den Artikel immer noch zurückziehen und zunächst besprechen, bevor er veröffentlicht wird.“ Sie ahnte nicht, was im Kopf der Aurelia vorging bezüglich ihres Verwandten. Sie hatte Corvinus nie von dieser Seite kennen gelernt, aber andererseits hätte er sie kaum als Klientin angenommen, wenn er der Meinung wäre, Frauen ganz allgemein sollten sich auf bestimmte Bereiche des öffentlichen Lebens konzentrieren. „Nun, den Buchhandel habe ich in Alexandria eröffnet. Da ich jetzt wieder nach Rom gezogen bin, musste ich hier erst etwas Neues finden. Derzeit bin ich noch am Überlegen, ob ich die Räumlichkeiten in Alexandria zusätzlich behalte oder nicht. Es ist etwas schwierig, auf diese Entfernung alles im Blick zu behalten.“ Und sie war sich nicht so sicher, ob ihr Personal in Alexandria so zuverlässig war wie der Verwalter ihrer Töpferei hier in Rom, der sich während ihrer Zeit in Ägypten um alles gekümmert hatte. „Kann ich dir irgendetwas anbieten?“

  • Sim-Off:

    Verzeih die Verspätung!


    Seiana hatte der Aurelia einiges an Erfahrung voraus. Die junge Frau befand sich noch in jenem Abschnitt ihres Leben, in welchem sie noch entscheiden konnte, welchen Weg sie letztendlich einschlagen würde. Ob das im oder gegen den Sinn ihrer Familie war, das war noch offen, auch wenn sie selbst glaubte, dass es diesbezüglich keinerlei Spielraum gab. Schließlich zeigte das das Beispiel der Frauen um sie herum. Das war wohl auch der Grund, weshalb sie eine solche Faszination für die Decima empfand, die ihr auf sie einen äußerst selbstständigen Eindruck machte.
    „Es ist beruhigend, was du da sagst...“, antwortete Narcissa etwas verhalten. Hinter zwei X-en am Ende des Artikels wollte sie sich nicht verstecken – andererseits wollte sie sich aber auch nicht mit dem Klatsch und Tratsch befassen, sondern mit wichtigen Themen.
    „Und es klingt nach jeder Menge Arbeit für die lectoren“, fügte sie mit einem Lächeln an.


    Der Sklave hatte nun auch die letzte Schriftrolle auf dem Tisch vor ihr platziert. Eine weiße Rolle neben der anderen. „Das ist verständlich. Zumal du auch nicht „Mal kurz“ nach Alexandria reisen kannst. Man ist bestimmt eine ganze Weile unterwegs...Warum hat es dich denn wieder nach Rom zurückgezogen?“, Aufmerksam wandte Narcissa den Blick auf die Schriftstücke und schon nach wenigen Atemzügen blieb sie an einem Autoren hängen. So war es immer. Im Grunde fand sie in jeder Bücherhandlung etwas, dass sie interessierte. Dieses mal hatten ihre Augen eine Schrift Sapphos entdeckt. Etwas überraschend war es schon, ausgerechnet diese Griechin hier zu finden, war ihre Kunst doch etwas – manche Römer würden sagen – anrüchig und gewiss nichts für junge tugendhafte Römerinnen. Kurz sah sie zu der Decima auf, die sie aus unlesbaren Augen heraus beobachtete. Ja, warum eigentlich nicht? Als hätte die Selbstständigkeit der Frau sie angesteckt, beschloss sie dieses Mal nicht darauf zu achten, was sich eigentlich gehört hätte – nämlich nach einer anderen Schriftrolle zu suchen -, sondern das zu tun, wonach ihr der Sinn stand. Sozusagen eine kleine Rebellion – die eigentlich ziemlich unsinnig war, denn gegen wen, sollte sich diese richten. Die Leibsklavin Sophie hatte sie nicht begleitet und einmal zu Hause würde sie mit der Schriftrolle ohnehin in ihrem Zimmer verschwinden. Aber das machte nichts, das Hochgefühl zählte. „Mich würde diese hier interessieren...“, antwortete sie Seiana und deutete dabei auf die entsprechende Sappho-Schrift. „Wie viel möchtest du dafür haben?“

  • „Nun ja…“ Seiana machte eine vage Handbewegung und lächelte flüchtig. „Es ist schon einiges zu tun, aber die Arbeit gefällt mir einfach.“ Und es war eines der wenigen Dinge, die sie als Frau überhaupt tun konnte, aber das sagte sie nicht laut. Es gehörte nicht hierher, und davon abgesehen musste das sowieso nicht diskutiert werden. Es war eben so, und Seiana akzeptierte das – mehr noch, sie unterstützte es ja. Es gab Traditionen und Werte, die geehrt werden sollten. Die Sache mit Caius bestärkte sie nur noch einmal in diesem Glauben. Sie war dieses Thema mit Verlobung und Ehe ganz falsch angegangen. Sie hätte nicht, oder nicht in erster Linie, darauf achten dürfen, ob es ein Mann war, den sie mochte. Sicher musste es jemand sein, mit dem sie sich ein gemeinsames Leben vorstellen konnte, aber das musste nicht notwendigerweise ein Mann sein, den sie mochte. Es gab auch andere Gemeinsamkeiten, die verbanden. Wenigstens die, die Familien zu verbinden und dadurch einen Mehrwert für beide zu bekommen. Nein, sie hätte Caius nicht nach Ägypten nachreisen dürfen – sie mochte die Erfahrungen in Alexandria nicht missen, von daher konnte sie nicht davon sprechen, dass es falsch gewesen war, aber sie hatte sich aus falschen Gründen dazu verleiten lassen. Was ihre Verlobung betraf, hätte sie sich traditioneller verhalten müssen, und vor allem: sie hätte auf andere Dinge Wert legen müssen.


    Und genau um dieses Thema drehte sich ihr Gespräch auch weiterhin. Seiana wünschte sich, sie wäre nicht so ausführlich auf Alexandria eingegangen, dann müsste sie sich jetzt nicht irgendetwas ausdenken, was als Grund taugte, wieder hierher gekommen zu sein. Sie konnte und wollte nicht von ihrem ehemaligen Verlobten erzählen, der in Alexandria gearbeitet und sich bereits nach einem anderen Posten in Rom umgesehen hatte. „Es hat mich einfach wieder zurückgezogen. Ein Großteil meiner Familie lebt hier… und so faszinierend Alexandria auch ist, Rom ist noch einmal etwas anderes.“ Nicht ganz die Wahrheit, aber eben auch keine wirkliche Lüge. Sie verschwieg nur Teile – auch wenn es wesentliche Teile waren. Caius. Und dass sie sich gegen Ende ihres Aufenthalts in Ägypten dort ohnehin nicht mehr wohl gefühlt hatte, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Dass die Nachricht vom Tod ihrer Brüder sie mitgenommen hatte. Dass sie Faustus, ihren jüngsten, ihren liebsten Bruder endlich wieder hatte sehen wollen, der einzige aus ihrer engsten Familie, der ihr noch geblieben war. All das gehörte nicht hierher, in ein Gespräch mit einer Kundin. Sie sah kurz auf die Schriftrolle, die die Aurelia sich ausgesucht hatte, aber dem Ausdruck auf ihrem Gesicht war nicht zu entnehmen, was sie davon hielt, während sie sich innerlich doch fragte, was die Aurelia zu dieser Auswahl gebracht hatte. Sappho hatte einige Werke verfasst, darunter auch Hymnen an die Götter, aber der Titel der Schrift, die die Aurelia in der Hand hielt, wies auf etwas anderes hin. Ohne es zu wollen, musste Seiana an das Essen bei dem Pompeier denken, und an den Kuss, den die Iunia ihr gegeben hatte. Sie schloss die Augen und verbannte die Erinnerung aus ihrem Kopf, während sie sich nun doch um ein Lächeln bemühte – aus anderen Gründen. „Ich meinte eigentlich, ob ich dir etwas zu trinken anbieten kann. Diese Schriftrolle kostet 12 Sesterzen.“

  • Narcissa nickte abwesend, ganz und gar auf die Hände des Sklaven konzentriert, die eine Schriftrolle neben die andere setzten. Der Mann hatte schöne Hände, wie ihr jetzt erst auffiel. Feingliedrig und schlank. Es gab Dinge, an denen es nichts zu rütteln gab. Der Platz einer römischen war im Haushalt an der Seite eines ehrbaren Ehemannes, eine Horde Kinder im Schlepptau, den Götterdienst im Kopf. Es gab Gründe weshalb alles so geordnet war. Jung wie sie jedoch war, erschien ihr diese Aussicht reichlich mickrig. Sie träumte noch von den Sternen, dem Leben, der Welt, der Liebe. Und war diesbezüglich, obschon sie nicht auf den Kopf gefallen war, naiv.


    Irgendwie schien sich tatsächlich alles um die Ewige Stadt zu drehen. Jeden Römer zog es früher oder später hierher, als wohne der Stadt eine geheimnisvolle Kraft inne, die ihre Bürger zu sich rief, wie das Licht Motten anzog. So zumindest kam es Narcissa vor, als die Decima ihr Antwort gab. Zurück nach Rom. Auch sie selbst hatte es hierher gezogen. Auch wenn Terentum nicht gerade zu den exotischsten Plätzen der Welt gehörte. Dennoch, so sehr ihr Rom auch gefiel – Terentum war ihre Heimat. Man kkonnte viele Zuhause haben. Aber eben nur eine Heimat. So konnte sie es Seiana zumindest ein klein wenig nachempfinden, wobei Alexandria für sie dann doch einmal in eine andere Kategorie gehört. Das war Abenteuer. „Könntest du es dir vorstellen eines Tages nochmals dort hinzuziehen; Oder vielleicht noch einmal ganz wo anders hinzugehen?”, erkundigte sie sich.
    Etwas ging in der Frau vor, das konnte Narcissa deutlich sehen. Für den Hauch eines Atemzugs schloss Seiana ihre Augen und als sie sie wieder öffnete, da spielte ein Lächeln um ihre Lippen. Sie konnte nicht sagen warum, aber es ließ die junge Aurelia für einen Moment stutzen, innen halten. Eine leise Stimme in ihrem Kopf wisperte leise, dass das nicht ganz zu dem Bild passte, dass sie bisher von der Decima gewonnen hatte. Es war wie ein klitzekleiner Schönheitsfehler in einem ansonsten makellosen Gemälde. Da war etwas. Ein Mensch hinter dem Menschen. Sie wagte nicht recht, sie darauf anzusprechen. Immerhin war Narcissa nur eine Kundin. Vielleicht irrte sie sich auch und es war etwas ganz anderes. Vielleicht die Schriftrolle? Gerade eben war Seianas Blick über den Titel gehuscht. Unwillkürlich überzog eine sanfte Röte ihre Wangen, die sogleich noch eine Nuance zunahm. „Oh…ähm…”, stolperte es ihr über die Lippen. Was für eine qualifizierte Antwort, Narcissa! Ein solches Angebot hatte sie nicht erwartet. „Ja…gern – wenn du Zeit hast?…Etwas Wasser für mich – und Evander”, fügte sie mit einem Blick auf den Custodes hinzu: „wäre nicht schlecht. Es war draußen ganz schön warm und wir sind schon eine Weile unterwegs…”, Sie lächelte. „Oh und…die Schriftrolle würde ich nehmen…” Wie auf ein Zauberwort trat der Sklave, der sich die Zeit über eher im Hintergrund gehalten hatte näher und reichte seiner Herrin den Lederbeutel mit den Münzen, aus welchem die Aurelia die geforderte Geldsumme herauszählte und sie dann der Decima übergab.

  • Heimat. Hätte Narcissa ihre Gedanken laut ausgesprochen, Seiana hätte nicht sagen können, was ihre Heimat war. Hispania dann wohl, unter den Maßstäben betrachtet, die die Aurelia für sich selbst anlegte. Heimat. Tarraco war sicherlich ihre Heimat gewesen, früher einmal. Irgendwie. Aber was hieß schon Heimat? Daheim gefühlt hatte sie sich nie an einem Ort, immer nur bei Personen. Genauer gesagt bei ihrer Familie, vornehmlich bei Faustus, ihrem Bruder. Der dann verschwunden war. Ebenso wie ihre beiden anderen Brüder – der ältere tatsächlich, der zweite… geistig. Seiana hatte den Punkt nie benennen können, aber Caius hatte sich irgendwann… abgeschottet von ihr. Von ihnen. Das Verhältnis zu ihm war ohnehin nicht so eng gewesen wie zu ihren beiden anderen Brüdern, aber im Lauf der Jahre hatte es sich noch mehr auseinander entwickelt, und als dann ihre Mutter krank geworden war, hatte er sich dann völlig zurückgezogen, von ihr, ihrer Mutter, jedem, so weit Seiana das beurteilen konnte. Und hatte sie auf diese Weise so allein gelassen wie die beiden anderen. Und nach dem Tod ihrer Mutter… war ohnehin alles anders geworden.


    „Nun… Doch, ich denke schon, dass ich mir das vorstellen könnte.“ Seiana lächelte, aber es erreichte ihre Augen nicht wirklich. Es war nicht so, dass sie die Wahl hatte – wenn sie verheiratet war, war ihr Platz an der Seite ihres Mannes, und auch wenn diese Verlobung geplatzt war, eines Tages würde sie heiraten, weil es sich so gehörte, weil es gar keine Alternative gab für sie, wenn sie ihrer Familie keine Schande bringen wollte. Für einen winzigen Moment bedauerte sie, dass Faustus und sie Geschwister waren. Wie einfach wäre die Welt, wenn sie heiraten könnten. Er müsste keine Verkupplungsversuche ihrer Tanten mehr über sich ergehen lassen, und er hätte eine Frau, der er nichts vorspielen müsste. Und sie… sie hätte einfach ihre Ruhe, sie wäre verheiratet, hätte ihre Pflicht erfüllt, würde nicht mehr aus dem Rahmen fallen, aus der Norm, würde nicht mehr auffallen… Seiana verdrängte diese Gedanken. „So weit und beschwerlich die Reise auch ist, Alexandria ist sie in jedem Fall wert.“


    Als Seiana einen kurzen Augenblick schwieg und in einer Erinnerung versank, die sie nur allzu bald wieder zu verdrängen suchte, bemerkte sie nichts von Narcissas Reaktion darauf. Wie sie kurz stutzte. Hätte sie es bemerkt, hätte Seiana sich sofort gefragt, ob sie nicht zu viel verraten hatte – ob an ihrer Reaktion, ihrem Gesicht zu lesen gewesen wäre, was vorgefallen war, das diese… diese Iunia getan hatte an jenem Abend. So bemerkte Seiana allerdings nur eine leichte Röte auf den Wangen der anderen, die sie nicht ganz zuordnen konnte, und so winkte sie nur ihrem Sklaven kurz zu, das Gewünschte zu bringen, während sie selbst die Schriftrolle entgegennahm und ihr eine leichte Schutzhülle aus Stoff überzog. „Möchtest du Platz nehmen?“ fragte sie und wies auf eine kleine Gruppe aus Korbstühlen und Tischchen, die in einer Ecke standen, noch darauf wartend, im Raum an geeigneten Stellen verteilt zu werden. Der Sklave unterdessen kam wieder mit einem Krug voll Wasser und einem zweiten mit Saft so wie drei Bechern, die er jeweils bis zur Hälfte mit Wasser füllte, bevor er sich wieder daran machte, Schriftrollen auszupacken und zu sortieren. „Wenn du möchtest, kannst du es auch gerne mischen. Ist das deine erste Schrift von Sappho, oder hast du schon einmal was von ihr gelesen?“

  • Narcissa war privilegiert. Nicht nur von Geburt her, der Umstand, dass sie in eine patrizische Familie hineingeboren war, sondern auch deshalb, da ihr die Götter einen Zwilling an die Seite gestellt hatten. Jemandem, dem sie (fast) alles anvertrauen konnte, auf den sie sich verlassen konnte, der sie hielt, wenn sie schwach war. Flora. Die junge Aurelia konnte sich ein Leben ohne ihre geliebte Schwester nicht vorstellen. Wollte es nicht. Die Vorstellung, irgendwie nur halb zu sein, machte ihr Angst. Flora folgte ihr überall hin. Und überall dort, wo Narcissa war, war auch Flora. Selbst jetzt schienen sie auf merkwürdige Weise verbunden zu sein. Sollte Flora sie brauchen, dann, da war sich Narcissa absolut sicher, dann würde sie das instinktiv spüren. Schließlich hatten sie ihr Band bereits im Leib ihrer Mutter geknüpft, hatten dann entgegen aller Prognosen und Statistiken überlebt und waren gemeinsam zu jungen Frauen herangewachsen. Setzte man diesen Maßstab an, dann war sie überall zu Hause. Ihr größte Furcht war es also, eines Tages von ihrer Schwester getrennt zu werden. Und das das geschehen würde, das war unumgänglich. Schon jetzt hatte sie den Eindruck, Flora hatte sich ein kleines Stückchen von ihr entfernt, ohne wirklich benennen zu können, woher sie dieses Gefühl nahm.


    Die Decima lächelte zwar, aber ihre Augen blieben dabei kalt. Irritiert nahm es Narcissa wahr und versuchte zwischen den Zeilen zu lesen. Aber Kleingeschriebenes konnte sie nicht finden. Entweder versteckte Seiana die Worte zu gut, oder der leise Eindruck, der so ungesichert war, dass er ihren Händen immer wieder wie ein Stück Seife entglitt, hatte sie getäuscht. An letzteres wollte sie nicht so recht glauben und so hing ein großes, schweres, rotes Fragenzeichen über ihr in der Luft – dessen Existenzberechtigung allerdings bestätigt wurde, als die Frau einen Moment lang, offenbar in Gedanken vertieft, schwieg. Die Decima wirkte auf sie irritierend fern und nah zugleich.
    Aufmerksam beobachtete sie, wie sie die Schriftrolle mit einer Schutzhülle aus Stoff überzog und spürte das aufgeregte Flattern in ihrer Magengegend, das sie immer empfand, wenn sie ihrer Sammlung eine neue Schriftrolle hinzufügte. Die Frage Seianas überrumpelte sie dann fast schon und sie nickte hastig, ehe sie sich auf einem der angewiesenen Korbstühle nieder ließ. Der Sklave kehrte mit der Erfrischung zurück und sie nahm sich einen Becher, während sie Evander freundlich zunickte, er solle sich doch auch einen nehmen. Das wiederum schien den jungen Mann zu irritieren. Zögerlich trat er näher, streckte langsam die Hand aus, den Blick dabei auf seine Herrin gerichtet, die inzwischen einen tiefen, wohltuenden Schluck nahm, der ihre Kehle wieder befeuchtete, nahm rasch den Becher und brachte wieder einige Schritte gebührenden Abstand zwischen sich und der domina.
    „Vielen Dank! Jetzt erst merke ich, wie durstig ich war“, Lächelnd wandte sich Narcissa an die Ältere. Insgeheim fragte sie sich, ob die Frau alle ihre Kunden so behandelte und zu einem kleinen Plausch einlud.
    „Ich habe schon das eine oder andere von Sappho gelesen...“, antwortete sie. „Götterhymnen“, konkretisierte sie mit einem amüsierten Ausdruck in den grünen Augen. Selbst das war zu viel für die alte Cretica gewesen. Sappho war eine griechische Frau. Frauen konnten nicht schreiben. Schreibende Frauen las man nicht. „Es gibt Menschen, die mögen sie nicht sonderlich...“ Wieder vibrierte die Vorfreude durch ihren Körper, darüber, was die Zeilen ihr später wohl enthüllen mochten.

  • Dass die Aurelia sich Gedanken machte über sie und ihr Verhalten, entging Seiana größtenteils, was einerseits daran lag, dass auch die Aurelia – wie so viele Römerinnen – wohl gelernt hatte, wenigstens bis zu einem gewissen Grad ihre Gedanken zu verbergen, andererseits aber auch ganz klar daran, dass Seiana immer wieder in ihre eigene Gedankenwelt versank. Für gewöhnlich war sie eine recht gute Beobachterin, aber im Moment nützte ihr das nicht sonderlich viel. Dass Narcissa jedoch von ihrer Einladung, sich zu setzen, überrascht war, das wiederum bemerkte Seiana. Erneut zeigte sich ein vages Lächeln auf ihren Zügen, aber sie kommentierte das Erstaunen nicht. Ruhig wartete sie ab, bis die Aurelia sich gesetzt hatte, bis sie ihr Getränk erhalten und auch ihr Sklave sich einen Becher genommen hatte, bevor auch sie sich setzte. Einen Becher Wasser nahm sie ebenfalls, verzichtete jedoch darauf, mehr als einen kleinen Schluck zu trinken – es war mehr die Höflichkeit, die sie dazu veranlasst hatte. „Es ist draußen bereits erstaunlich warm. Bald bricht wohl die Zeit an, in der Rom nahezu unerträglich sein wird…“ Ohne es sich bewusst einzugestehen, realisierte ein Teil von Seiana, dass sie diese kleine Unterbrechung genoss. Zu viel hatte sie sich in den letzten Tagen nur mit ihrer Arbeit, mit den Betrieben, der Acta, der Schola beschäftigt. Sie genoss es tatsächlich, ein wenig zu plaudern, und die Aurelia war eine angenehme Gesellschaft.


    Als Narcissa ihre Frage nach Sappho beantwortete, konnte Seiana sich ein Schmunzeln – ein echtes diesmal – nicht verkneifen, und sie sah es gespiegelt in den Augen ihres Gegenübers, die, wie sie in diesem Moment zum ersten Mal bemerkte, auffallend grün waren. Götterhymnen also. Wie alt mochte die Aurelia wohl sein? In jedem Fall keine 20, schätzte Seiana. „Die gibt es wohl. Als Literaturliebhaber wäre es aber schade, Sappho zu versäumen. Nicht umsonst hat Plato sie als zehnte Muse bezeichnet. Du magst sie offenbar, nicht wahr?“ Sonst würde Narcissa wohl kaum etwas kaufen von ihr. Seiana war sich selbst nicht so ganz schlüssig, was sie von Sappho halten sollte. Von manchen ihrer Texte. Von ihrem Leben. Sappho war frei gewesen… und war, nach allem was man wusste über sie, nicht wirklich ehrbar gewesen. Allerdings war es eine andere Zeit gewesen, eine völlig andere als die, in der sie nun lebten. Manchmal fragte Seiana sich, ob sie es leichter gehabt hätte, wäre sie zu einer anderen Zeit geboren worden. Obwohl es müßig war, darüber zu spekulieren, hing Seiana dennoch für einen Moment diesem Gedanken nach. Ein feines Lächeln umspielte nun Seianas Mundwinkel. „Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, musst du mir berichten, was du von dieser Schrift hältst.“

  • Die Aurelia nahm ein weiteres Schlückchen und stellte den Becher dann zurück auf den kleinen Tisch zu den zwei Kannen. „Der Sommer steht zweifelsohne vor der Tür“, stimmte sie zu und konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Anders als viele Stadtrömer, mochte sie die Hitze oder besser gesagt das, was mit der Hitze einherging: Im hortus im schützenden Schatten eines Baumes oder einer Arkade zu sitzen, kühles Wasser zu trinken und sich an dem Grün um sie herum zu erfreuen. Aber natürlich war klar, dass auch sie und ihre Schwester die Ewige Stadt zur Sommerhitze verlassen würde. Das schrieb schon allein der Anstand vor. Kein Römer, der es sich leisten konnte, blieb in der Stadt – zumindest nicht wenn er oder sie gezwungen war, wie etwa die Vestallinnen. Es musste wirklich ein fürchterliches Gefühl sein, sich nicht dorthin bewegen zu können, wo man hin wollte. Für sie kam so etwas absolut nicht in Frage. Schon allein deshalb, weil es bedeutete sich von Flora trennen zu müssen.
    „Wirst du den Sommer über hier in Rom bleiben?“, Sie zwang sich fast dazu diese Frage zu stellen, um ihre Gedanken zu zerstreuen und sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Überhaupt, was machte sie sich schon wieder um Dinge Gedanken, die gar nicht zur Debatte standen?!


    „Das was ich bisher von ihr gelesen habe, hat mir gut gefallen – ja...“, antwortete Narcissa diplomatisch. Bisher kannte sie nur einen kleinen Teil des Werkes, aber der hatte sie durch seine ausdrucksvolle, klare Sprache eingenommen. „Viele römische Dichter hatten sie zum Vorbild...Catull, Horaz...“ Wenn solch große Männer nichts an ihrer Kunst anstößig fand, warum sollte sie es dann tun. Aber sie konnte nachvollziehen, weshalb die Griechin einer gewissen Kritik gegenüber stand. Sie hatte nur von jenen Texten gehört, die keine anständige Frau auch nur aus drei Schritt Entfernung ansah. Dennoch hatte ihr Werk eine gewisse Anziehungskraft auf die Aurelia. Sie war neugierig. Die Frau, die durch ihre Zeilen mit ihr sprach, war frei gewesen. Ganz unbewusst begab sich Narcissa auf genau diesselben genanklichen Wege, die auch ihr Gegenüber so eben beschritt. Eine andere Zeit...
    „Sehr gern...“, erwiderte sie lächelnd und sprach dann, wenn auch zögernd den Gedanken aus, den die Decima soeben versucht hatte zu verscheuchen: „Glaubst du, es wäre leichter gewesen als Frau in einer anderen Zeit geboren zu sein?“...Sie war sich der Inimität dieses Gedanken vollauf bewusst. Hier jedoch zwischen all den Regalen und Kisten mit Büchern fühlte sie sich eigenartig geborgen. Zudem hing Narcissa dem Glauben an, jemandem gegenüber zu sitzen, der diese Frage gut tragen konnte.

  • „Ich denke schon, ja“, erwiderte Seiana, sich bewusst darüber, dass es ungewöhnlich war. „Vielleicht nutze ich die Gelegenheit, mich ein wenig ins Umland zurückzuziehen, aber ich habe hier schlicht zu viel zu tun, als dass ich wirklich den Sommer über Rom fern bleiben könnte.“ Es zog sie auch nicht wirklich fort aus Rom. Natürlich war es nicht sonderlich angenehm hier im Sommer, aber sie hätte ohnehin nicht gewusst, wohin. Die Landgüter ihrer Familie, die angemessen wären, befanden sich in Spanien, und das war ganz sicher zu weit weg, selbst wenn es sie für mehrere Wochen fortgezogen hätte aus Rom. Und sie wollte auch gar nicht zurück nach Spanien, weder für kurze noch längere Zeit.


    Als sie weiter über Sappho sprachen und die Aurelia ihre Worte bestätigte, zeigte sich ein leichtes Lächeln auf Seianas Gesicht. „Das stimmt wohl“, meinte sie. Noch mehr hatten Sappho als Vorbild, hatten ihre Werke gelobt. Und so streng Seiana mit sich selbst war, was ihren Anspruch an sich anging als Römerin von Stand, so sehr konnte sie differenzieren, was Werke wie die Sapphos anging. Es betraf ja nicht sie. Es ging ja nicht darum, dass sie sich gehen lassen sollte. Es ging darum, dass sie Werke las, die von großer Ausdruckskraft waren, die mit Worten Bilder schufen, die Jahrhunderte zu überdauern imstande waren… Und die in Seiana gelegentlich die Sehnsucht weckten, selbst so schreiben zu können. So sein zu können. Wie Faustus, um dessen gefühlsstarke Art sie ihn auch manchmal beneidete. Faustus lebte sein Leben mit einer Leidenschaft, die ihr zwar nicht fremd war – als Kind war sie selbst anders gewesen, und auch heute noch zeigte sich, wenn auch äußerst selten, ihr Temperament –, die sie aber seit so langer Zeit schon so sehr unterdrückte, dass sie kaum noch vorhanden zu sein schien. Sie hatte sich selbst so gut trainiert, dass sie kaum in der Lage gewesen wäre, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, selbst wenn sie es wollte. Zu stark waren die Mechanismen der Selbstbeherrschung, die sie sich im Lauf der Jahre angeeignet hatte… und nur, wenn die Emotionen in ihr deutlich überhand nahmen, so überbrodelten, dass auch sie sie nicht mehr bezwingen konnte, drangen sie nach außen.


    Als Narcissa dann die Gedanken aussprach, die ihr selbst gerade im Kopf herumgegangen waren, sah Seiana, für einen Moment überrascht, auf. Für einen Moment fehlten ihr die Worte, während sie die Aurelia aufmerksam musterte, bevor sie dann, etwas zögernd, zur Antwort ansetzte. „Nun… Nicht für jede Frau, das sicher nicht. Es gibt… manche Römerinnen, die wie geschaffen sind für das Leben, welches uns bestimmt ist.“ Ein trauriges Lächeln verzog ihre Mundwinkel ein wenig. Es gab solche Frauen. Und sie gäbe einiges dafür, zu ihnen zu gehören. Aber sie war… nicht genug. Nie genug. Auch Seiana – einem Teil von ihr – war bewusst, dass ihr Gespräch allzu plötzlich eine andere Ebene erreicht hatte, eine Ebene, die zumindest sie für gewöhnlich nicht erreichte, die sie zumeist schlicht nicht zuließ. Die Worte der Aurelia, die Atmosphäre in diesem Raum und vor allem ihre eigenen Gedanken, die sie gerade eben noch auf dieselben Wege geführt hatten, die Narcissa nun ansprach, brachten Seiana dazu, ein wenig offener zu sein als normal. „Es gibt aber auch die Frauen, auf die es zutrifft, für die eine andere Zeit eine angemessenere sein mag…“

  • Narcissa nickte verstehend und ließ ihren Blick für den Bruchteil eines Atemzugs über die teilweise noch leeren Regale schweifen. Sie konnte es sich schon regelrecht vorstellen, wie es hier später wohl aussehen würde. Die Zeit und Anstrengung, welche die Decima in diesen Laden investierte, würde sich zweifelsohne lohnen. Es war bestimmt nicht das sprichwörtliche erste und letzte Mal, dass sie über die Türschwelle herein getreten war.
    Sie selbst hatte sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wo sie den Sommer wohl verbringen würde. Aber das war auch nicht nur ihre Entscheidung. Flora und ein bisschen auch Lysandra, die Leibsklavin der Zwillinge, hatten da ein Wörtchen mitzureden. Vielleicht würde es nach Mantua gehen. Immerhin hatte Titus dort ein Tribunat übernommen und es wäre eine gute Gelegenheit Septima zu besuchen. Eigenartig war es schon, bereits jetzt wieder darüber nachzudenken, Rom zu verlassen – wenn es auch nur für kurze Zeit war – wo sie doch gerade erst, so kam es ihr jedenfalls vor, in die Villa Aurelia in der Ewigen Stadt eingezogen war. Fort zog es sie nicht.


    Alles das Narcissa bisher über die Griechin wusste, hatte sie aus ihrer Lektüre der Götterhymnen oder bei anderen Schriftstellern gelesen. Das Bild das sich vor ihr auftat war sehr bipolar. Während die einen ihr ein unlauteres Leben zu Lasten legten, lobten die anderen ihr Werk. Es waren zwei unterschiedliche Maßstäbe, wie ihr jetzt bewusst wurde. Ein Mensch konnte ein noch so unehrenhaftes, moralisch zweifelhaftes Leben führen und dabei die wundervollste Lyrik und Prosa erschaffen. Womöglich verhielt es sich sogar so, dass es insbesondere jenen Menschen vergönnt war, weil sie aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen konnten. Künstler, und auch Schreiben empfand die junge Aurelia als Kunst, muteten ihr wie ein Schlag von Menschen an, der auf extravagante Weise in anderen Gefilden außerhalb der Gesellschaft zu leben schien. Dort galten ganz andere Spielregeln.
    Wenn man also einmal von dem Menschen hinter dem Werk absah und nur die Kunst betrachtete, dann gab es keine Schrift, die moralisch verwerflich war. Im Grunde. Allerdings transportierte das Werk auch immer die Meinung des Autors...Und dann? Dann konnte man die Kunst trotzdem nicht gesondert betrachten. Narcissa schwirrte der Kopf. Sie hatte den Eindruck im Kreis zu laufen. Gerade so wie ein Hund, der sich ständig in den eigenen Schwanz biss.
    Dabei war es für sie selbst doch zweitrangig, ob diese Sappho nun ein lasterhaftes Leben geführt hatte oder. Das machte die Frau nur noch interessanter. Narcissa stand der längst dahin geschiedenen Griechin mit der Neugierde der Jugend gegenüber.


    Subtil registrierte sie den überraschten Ausdruck, der für einen Moment über das Gesicht der Decima huschte. Hatte sie vielleicht doch etwas falsches gesagt? In der Stimmung, welche dieser Raum schuf, obschon er noch nicht perfekt war, war das ihrer Meinung nach eigentlich gar nicht möglich...aber wer wusste schon? Es konnte gut sein, dass nur sie dem Einfluss der Räumlichkeit unterlag. Fast schon rechnete die junge Aurelia keine Antwort von Seiana zu erhalten. Doch dann begann sie tatsächlich, wenn auch zögernd, etwas zu erwidern.
    Während sie der Decima lauschte, huschten ihr ganz verschiedene Gesichter durch den Kopf. Allen voran Lucilla, die Mutter der Zwillinge, die stets darauf drang, dass ihre Töchter ja dem Bild wohlerzogener Patrizierinnen entsprachen; Dann Antonia und Paulina, Freundinnen aus Terentum, die sich beide ziemlich wohl in ihrer Rolle fühlten und nie verstanden hatten, wenn die beiden Zwillinge einmal Einwände erhoben hatten: „Na, aber ihr habt doch alles!“, hatten sie immer mit einem Blick auf die Reichtumsstrotzende Einrichtung der Landvilla entgegen gehalten. Ja sie hatten alles. Und dann gab es noch jene Frauen, die irgendwie nicht in das System passen wollten. Die sich schwer taten, haderten. Narcissa erfasste das traurige, kaum merkliche Lächeln Seianas. Sie spürte instinktiv, dass die ältere normalerweise nicht solche Einblicke gab. Ohne es zu bemerken erwiderte sie ihr Lächeln.
    „Glaubst du, es sind die Frauen, die nicht in die Zeit passen – oder die Zeit, die einfach noch nicht so weit ist?“, erkundigte sie sich und ertappte sich dabei, wie sie den Becher wieder ergriffen hatte und jetzt damit gedankenverloren in den Händen spielte.

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